Essen. Den „Stabilisierungseinsatz“ in Afghanistan enttarnte der Philosoph Richard David Precht kürzlich als „Begriffswolke“. Nach dem umstrittenen Luftangriff sieht er sich im Recht und macht nun erst recht Front gegen den Afghanistan-Einsatz: „Ein Verstoß gegen das Völkerrecht.”

Als "Begriffswolke" bezeichnete Richard David Precht den „Stabilisierungseinsatz“ in Afghanistan. Nun, da ein Luftangriff eine „Gefahrenabwehr für unsere Soldaten“ gewesen sein soll, sieht er sich in allen bösen Befürchtungen bestätigt: Britta Heidemann sprach mit dem Philosophen über den Einsatz.

Herr Precht, ist es nicht eine prima Sache, in Afghanistan Demokratie und Menschenrechte zu sichern?

Richard David Precht: Es ist eine ganz wunderbare Sache, allen Ländern dieser Welt Demokratie und Freiheit zu bringen. Da bin ich für! Aber ich bin dagegen, das mit Waffengewalt zu tun, weil das im Fall von Afghanistan nicht funktioniert. Das Land hat keinerlei demokratische Tradition, keinen Nährboden dafür. Sie können die Menschenrechte nicht in die Herzen der Menschen schießen. Sie können Demokratie und Freiheit nicht herbeibomben.

Sie sind Philosoph– worin besteht das philosophische Problem des Einsatzes?

Precht: Man kann Menschenrechte nicht universal begründen. Wir haben uns in der abendländischen Tradition seit der Aufklärung sehr viel Mühe gegeben, immer wieder zu beweisen, dass das, was wir unter Menschenrechten verstehen, quasi naturgesetzlich vorhanden sein muss. Leider ist das nicht so. Wir können uns verpflichtet fühlen, andere von Menschenrechten zu überzeugen - aber man kann sie nicht beweisen. Und man kann sie nicht zur Grundlage von Kriegsführung machen. Menschenrechte müssen aus sich selbst heraus überzeugen. Es ist widersinnig, sie nicht mit humanen, sondern mit militärischen Mitteln implantieren zu wollen.

Wollen Sie wirklich sagen, dass es ein Land gibt, in dem es keine Chance für Demokratie gibt?

Precht: Jedenfalls nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Und da gibt es nicht nur eines! Wir haben in Somalia den Schwanz einziehen müssen, aus denselben Gründen. Dabei haben wir dort die vermutlich einzige militärische Mission gestartet, hinter der nicht handfeste wirtschaftliche Interessen standen. In Afghanistan hat der Westen nun eine Reihe von wirtschaftlichen Interessen, und deshalb müssen die Menschenrechte als Mäntelchen herhalten. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der Grund, warum wir in Afghanistan Krieg führen, mit Menschenrechten nichts zu tun hatte. Das ist ein nachgeschobenes Argument. Der Grund war, dass wir die Terroristen ausräuchern wollten und Osama bin Laden fangen. Davon ist heute ja fast gar nicht mehr Rede. Und nun ist dieses ganze Land zerrissen zwischen unterschiedlichen Warlords, die auch nicht alle Taliban sind. Wir wissen ja auch, dass die Clique, die sich um Karsai geschart hat, zum größten Teil nicht aus Demokraten besteht. Sondern aus Verbrechern de Luxe. Wir haben da niemanden, auf den wir setzen können.

Warum kommen wir da nicht raus?

Precht: Wir trauen uns nicht, solange die Amerikaner das nicht erlauben.

Die berühmte deutsch-amerikanische Freundschaft.

Precht: Genau – die Bündnistreue. Dabei ist Afghanistan kein Bündnisfall, das ist ein bisschen gelogen. Ein Bündnisfall besteht, wenn es einen Angriff auf ein Nato-Territorium gibt. Es hat aber kein Land ein Nato-Territorium angegriffen, auch nicht am 11. September. Es hat ja nicht Afghanistan die Amerikaner angegriffen. Deshalb haben wir auch von der UNO kein Mandat, dort Krieg zu führen. Wir haben nur ein Mandat dafür, die Regierung in Afghanistan zu unterstützen. Allerdings gibt es in Afghanistan keine Regierung. Karsai ist maximal der Bürgermeister von Kabul. Er hat in diesem Land gar keine Macht.

Der Einsatz wäre demnach ein Verstoß gegen das Völkerrecht?

Precht: Definitiv. Weil wir kein UNO-Mandat zur Kriegsführung haben. Wir haben dort Stück für Stück die Grenzen verschoben – erst die Tornados, jetzt der Angriff. Das ist auch ein Verstoß gegen den ursprünglichen Beschluss des Bundestages. Und weil der Verteidigungsminister das weiß, darf er das Wort Krieg nicht benutzen. Damit täuscht er aber die Öffentlichkeit. Sollte sich herausstellen, dass das Verteidigungsministerium die Öffentlichkeit bewusst belogen hat über die Anzahl der Toten und die Tatsache, dass Zivilisten von der Bundeswehr getötet worden sind, wird Herr Jung nicht Verteidigungsminister bleiben können. Das wird auch die CDU so sehen. Dann wird man ihn ersetzen müssen. Dann hätten wir in Deutschland den Fall, dass das Verteidigungsministerium die Bevölkerung belügt. Und das auch noch bei einem Kriegseinsatz, für den es kein Mandat gibt.

Wäre Ihre Forderung: alle raus, sofort?

Precht: Ein geordneter Rückzug braucht seine Zeit. Wir machen aber mit jedem Jahr, in dem wir da sind, die Situation schlimmer. Es mag uns gelingen, einige Taliban zu töten. Wir werden aber in die Situation kommen, dass all die Leute, die mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, von den anderen gelyncht werden. Wenn wir länger dableiben oder härter auf den Putz hauen, lässt das die Lage nur eskalieren. Das wissen wir im Grunde auch. Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Egal, wie die Koalition nach der Wahl aussehen wird, ob Steinmeier Außenminister wird oder Westerwelle, wir werden mit Sicherheit innerhalb einer baldigen Zeit aus Afghanistan rausgehen. Ich bin für massive Wirtschafthilfe für Afghanistan. Je mehr Wohlstand da ausbricht, umso weniger Nährboden haben die Taliban. Wir sollten uns alle Mühe geben, dieses Land westlich zu unterwandern.

Kaugummi und Coca-Cola?

Precht: Naja, so geht es ja in der Welt. Damit kriegen wir Afghanistan, das ist eine Frage der Zeit. Wir haben in Iran erlebt, wie die Mullahs mit aller Kraft noch mal den Deckel drauf gehalten haben. Und auch dieses Land hat sich unterschwellig massiv verwestlicht. Beim nächsten Mal wird die Revolution in Teheran vielleicht klappen. Afghanistan ist natürlich hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, das ist ein viel abgelegeneres Land als Persien. Aber auch da ist es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Aber solange wir durch unsere Kriegführung die Wut nicht nur der Taliban sondern auch die der Zivilbevölkerung schüren, halten wir diesen Prozess auf, statt ihn zu beschleunigen.

Klar Position beziehen

Das heißt, Sie kämpfen nun Seite an Seite mit Martin Walser, der in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel den Einsatz als „moralisch unerträglich“ bezeichnete.

Precht: Man kann aus unterschiedlichen Gründen gegen den Krieg in Afghanistan sein. Wichtig ist, dass man klar Position bezieht. Eine Mehrheit hält den Einsatz für falsch, das sieht unter Intellektuellen nicht anders aus als in der Bevölkerung allgemein.

Es sagen nur nicht alle so deutlich.

Precht: Das liegt ein bisschen daran, dass früher mal die Gruppe 47 für Moral zuständig war und danach lange niemand mehr. Die jüngeren Autoren waren bewusst unpolitisch. Das hat sich aber erfreulicherweise geändert. Juli Zeh, Ilja Trojanow, aber auch Ingo Schulze äußerten sich in letzter Zeit häufig politisch. Es gibt wieder eine Schicht moralisch und politisch interessierter Intellektueller. Das stelle ich mit großer Freude fest. Es passiert etwas in diesem Land, auch an dieser Front.