Essen. . Die Rolling Stones klingen wieder wie zu Beginn ihrer Karriere: Am Freitag erscheint ihr neues Album „Blue & Lonesome“.
Als die Rolling Stones im Juli 2003 auf einer Brache in Oberhausen vor 60 000 Sommernachteulen ein standardmäßig gutes Open-Air-Gastspiel ablieferten, ragte doch ein Song gewaltig heraus: Aus der australischen Schweinerock-Combo, die als Vorgruppe gedient hatte, enterte ein gewisser Angus Young die Bühne und legte mit Jagger & Co. einen derart mordsmäßigen „Rock Me, Baby“-Blues hin, dass sich nicht wenige wünschten, das möge jetzt bitte, bitte bis Mitternacht so weitergehen.
Keine 14 Jahre später, was ja im Kalender dieser immerjungen Band ein Wimpernschlag ist, geht es zumindest 42 Minuten und 36 Sekunden weiter, wenn auch ohne Angus Young, dafür aber mit einem anderen illustren Gast: „Blue & Lonesome“, das neue Album der ältesten Rockband der Welt ist ein reines Blues-Werk, für das es nicht reicht, ein Stones-Fan zu sein – man sollte auch dem Blues von Herzen zugetan sein.
Mick Jagger lässt seine Mundharmonika schon vom ersten Ton an glühen, diese Fanfare des gebeutelten kleinen Mannes, dem die Welt und noch mehr die Frauen darin zusetzen, dass es zum Erbarmen ist. Mal tanzt die Holde dem Manne auf der Nase herum und kippt ihm statt Milch Gift in den Kaffee, mal würde er am liebsten mit einer Knarre um sich schießen, mal schafft er das mit dem Abhauen einfach nicht. Man merkt schon: Es ist eine eher schlichte, vollkommen undigitale Welt, die da von einer dunkelblauen Endlosschleife mit Zwölftaktmuster zusammengehalten wird. Verglichen mit dem bunt schillernden ICE-Hochglanz des letzten Stones-Studioalbums „A Bigger Bang“ (zwölf Jahre her!) stampft da jetzt eine alte, mächtige Dampflok durch die Lautsprecher, es knarzt, es scheppert und der Mann am Mischpult hat Jaggers Stimme eine derartige Extraportion Hall und noch mehr Echo gegönnt, dass sie mitunter erstaunlich jung klingt.
So stampft das dann los mit fast swingendem Groove in „I’m Just Your Fool“, zwölf Nummern lang, und bei zweien hat Eric Clapton, dessen Yardbirds sich einst mit den Stones im legendären Londoner Marquee-Club die Klinke in die Hand gaben, die Chefgitarre übernommen. Weil dem doch nicht so ganz unverwüstlichen Keith Richards manchmal die Gicht in die Finger schießt – oder vielleicht auch nur, weil der Name des göttlichen Clapton zu den wenigen gehört, die ein Stones-Album noch aufwerten können.
Allein das zeigt aber auch, dass es darum geht, Blues im 21. Jahrhundert und nicht den Blues des 21. Jahrhunderts zu spielen, wie es Joe Bonamassa oder die Black Keys tun. Der „Blue & Lonesome“-Sound ist klar wie Kristall, selbst die schulmäßigen Übersteuerungen in Gesang und Gitarre sind sehr gewollt und nicht Folge von überlastetem Equipment wie 1964 bei der ersten Studioplatte der Stones. „Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu“, soll Mr. Richards zum neuen Album gesagt haben, „manche dieser Songs haben wir seit 1962 oder 1963 nicht mehr gespielt. Aber meine Finger können sich noch daran erinnern . . .“
Lauter Fremdkompositionen von alten Blues-Haudegen wie Howlin’ Wolf, Memphis Slim oder Willie Dixon also. Mindestens eine der zahllosen Legenden um die Entstehung ihres Bandnamens geht ja zurück auf einen Song von Muddy Waters, dessen Platten Jagger Anfang der 60er-Jahre unterm Arm hatte, als er seinen alten Kindheitskumpel Keith Richards unverhofft beim Pendeln nach London wiedertraf. Kurz darauf fand sich die Band beim legendären Alexis Korner zusammen, der da oben auf Wolke neun zum neuen Stones-Album heftig mit den Füßen wippen dürfte. Wer den „Little Red Rooster“ und andere frühe Stones-Aufnahmen bislang verpasst hat, dürfte spätestens jetzt den wesentlichen Unterschied zwischen den Beatles und den Stones begreifen: Lennon & McCartney kamen vom Rock’n’Roll zum Poprock, die Stones vom Blues. Wundere sich also niemand, wenn Jagger & Co. mit den neuen alten Songs auf eine Club-Tour gehen sollten – fürs Stadion taugen sie beim blauesten Willen nicht.