Liebeserklärung eines Literaten ans Revier: Die Dankesrede des Dortmunder Autors Jürgen Brôcan zur Verleihung des Literaturpreises Ruhr in Gladbeck.

Eine Dankesrede — sehr verehrte Damen und Herren! — ist keine schlichte Fingerübung, keine einfache Gelegenheitsprosa. Dem erfreulichen Anlaß entsprechend richtet sich der erste Dank natürlich an diejenigen, die sich zur Vergabe eines Preises entschlossen haben, weil sie überzeugt waren, daß ein Werk ihn verdient. Doch muß nicht im selben Augenblick der Dank desjenigen, der das Werk geschrieben hat, auch an all das gehen, was sein Werk ermöglicht hat? In diesem Sinne bin ich sehr froh, nun schon seit fünfzehn Jahren in einer der anregendsten Regionen Deutschlands zu wohnen, dem Gebiet, grob umrissen zwischen Lippe und Ruhr, das die Emscher wie ein allgegenwärtiger Roter Faden durchzieht. Ja, Wasserläufe sind ein gutes, lebendiges Koordinatensystem, und wenn es so etwas wie einen durch und durch poetischen Landstrich gibt, dann ist es, zumindest für mich, Nordrhein-Westfalen mit dem Ruhrgebiet in der geographischen Mitte. Wer im Ruhrgebiet wohnt, braucht nicht in die großen Weltstädte mit den klingenden Namen zu fahren, um von dort mit vielbeachteten Berichten zurückzukehren, er braucht im Grunde nur vor die Haustür zu treten und findet bei jedem Schritt neue Themen für neue Gedichte. Das hat nun gar nichts mit Lokalpatriotismus oder selbstbeweihräucherndem Regionalismus zu tun —: sondern reflektiert schlicht die Tatsache, daß man hier, im Ruhrgebiet, auf überschaubarem Raum, soviel Stoff findet, daß es wahrscheinlich für zehn und mehr Schreibleben ausreichen würde. Das ist vielleicht zunächst überraschend, denn im allgemeinen wird das Ruhrgebiet ja nicht mit dichterischen und anderen künstlerischen Produktionen in Verbindung gebracht. Doch hier täuscht der erste, sogenannte entscheidende Eindruck allemal. Nehmen Sie etwa „Das Wasserwerk“:

Im schmalen Zweistromland von Kanal und Fluß Halt

genug für den flüchtigen Auftritt der Füße,

wo die Träger, Pfeiler, Hallen ins Wasser gehen:

ihr Wegsacken, Kippen in den maroden Glanz

langsamer als der Schweiß über

die Blaumänner tropfte,

ein ausgeweidetes Skelett, Marl, der Windhalm, fällt ein,

die Himmelssäume in Pfützen festgetackert,

brackig, entspiegelt durch Laub,

doch ich sah einen Schwan, der mit hallendem Geflappe abhob

von der Wasserfläche,

und zwei Möwen schraubten sich im Flug umeinander.

Solche Gedichte aus der Ortskenntnis sind natürlich nur ein kleiner Teil meiner Arbeiten, allerdings kein geringer und unwesentlicher. Ich glaube, der Blick aufs sogenannte „Große-Ganze“ ist dann am umfassendsten und kann am weitesten in die Tiefe dringen, wenn er die kleinen, oft unbeachteten Dinge eben nicht außer Acht läßt, zum Beispiel eine „Wannenbrücke“, ein konkreter Ort, in diesem Fall eine ehemalige Werkbahntrasse nördlich der Kokerei Hansa, der unversehens zu einem Überallort werden kann:

Was soll’s, der Abstand zwischen Wörtern und Dingen,

in mir steigt die Freude wie Quecksilber unter Hitze,

hier ist ein Stadtort, den die Stadt vergessen hat,

aus dem Planquadrat gefallen, vom Rotstift verschont,

Anfang und Ziel lange schon außer Betrieb, eine Strecke,

die zu nichts führt, nichts bringt, museales Fragment,

eingelagert in Anfangswildnis, auf den Schwellen

gelbe Schleimpilze, Schneckenspuren, leuchtend wie Fiberglas,

wann war zuletzt einer hier? Ein weggeschnippter Filter,

blaue Flaschenscherben, ihr Rauschversprechen

beim Rauschen aus der Tiefe bedeutungslos:

eine unterwandernde Wasserschnur, wo ich einen Reiher

überrasche, der mit störrischem Geflatter startet,

lautlos kollidierend mit dem Windflieger Weidensamen.

Geschichte ist unaufhörlicher, unaufhaltsamer Wandel, heute global beschleunigt und mancherorts, wie nämlich im Ruhrgebiet, stärker zu spüren als anderswo. Der Text hält einen Zustand fest und dokumentiert die Veränderungen, nicht selten mit reichlich betrübtem Auge —: ich kann die vielen liebgewonnenen, weil mich zu Worten anregenden Stellen gar nicht aufzählen, die es schon nicht mehr gibt — eine herrliche, zwei Kilometer lange Pappelallee, die unter die Kettensäge kam; ein Düker, „steil und moos- / glitschig, mit Mustern alter Überflutungen / wie ausgelaufene Tinte oder erste / Versuche in Daguerrotypie“; zerfallene Häuser; eine Autobahnbrückenwildnis; die schnurgeraden Betonsohlen der Emscher mit ihren Zuflüssen —: alle fort. Für mich sind diese von Zeit und Geschichte, von Gewordenheit aufgeladenen Orte wertvoll, sie besitzen eine besondere Schönheit, und ich sehe es als eine Aufgabe der Literatur, darauf hinzuweisen. Das Häßliche sehen wir ja alle, es steht uns täglich vor Augen, beim Blick in Fernseher, Tageszeitung, Internet, und es erklärt sich selbst in all seiner Dummheit, Gewalt und erschreckenden Perfidität. Das Schöne zu sehen, das sich in Ritzen und Fugen versteckt, ist dagegen schwieriger. Das ist nicht die glatte, geleckte Schönheit, sondern die Gebrauchsspurenschönheit, immer ein wenig aufsässig und abseits der vermeintlichen Ideale. Und wenn sich in diese Beschreibungen ein Zitat des englischen Kunsttheoretikers und Sozialkritikers John Ruskin aus dem 19. Jahrhundert beileibe nicht zufällig verirrt, erkennt man es als solches kaum, denn die Zeiten sind einander so unähnlich nicht:

gehäutetes Gelände, entpatiniert,

der Bahndamm mit ergrautem Bruchholz,

aus den Flanken rippenweiß morschende Knüppel,

Grasornamente auf den Mauern u. im Wind

biegsame Glockentürmchen, ihr läutender Samen,

u. das Wasser, als versuchte man, eine Seele zu malen,

die Liste der Zeitzeugen ist lang

(Asche und Lumpen, Bierflaschen und alte Schuhe, zerschlagene Töpfe, zerschmettertes Geschirr, namenlose Kleiderfetzen, Kehricht, Küchenabfall, Gartenabwässer, Alteisen, verrottetes Holz, schartig von ausgezogenen Nägeln, Zigarrenstummel, Pfeifenköpfe, Schlacke, Knochen und Kot)

u. wo erst kürzlich ein Eisvogel

über die Fläche des Wassers flitschte, allein

mit der zitternden Transparenz des Himmels, klafft

eine Baustelle wie Raubtierriß

Nach dem Grimm’schen Wörterbuch besteht zwischen „Dank“ und „Gedenken“ ein etymologischer Zusammenhang. Wer sich also, wie der Autor, dankbar an Orte begibt, denkt sie sich nicht nur in ästhetischer Dimension, sondern auch in ihrer zeitlichen, sozialen, botanischen, architektonischen oder geologischen Dimension. Es ist so vieles vor Ort, Geschichte ist vor Ort, Weltgeschichte —: aktuell an manchen heimgesuchten Friedhöfen oder sogar noch in einer Idylle, in der man sie im ersten Moment nicht vermuten würde:

Die Taschentuchbäume im Rombergpark

Gebetsfahnen, blütenweiß,

keine Wünsche in den Wind geschrieben —

und nicht: Taubenschwärme oder feuchte Taschentücher.

Dennoch, bezwingend die Geste, das gezückte Tuch,

sein Winken... wem? der Himalaya-Tränenkiefer,

der aufknallenden Zaubernuß, den Buchen mit Wimmerwuchs?

Dünner Löß auf oberkarbonischen Schichten

Nährboden für viel Erstaunliches —

die Robinie richtet ihre Fiederblättchen

parallel zu den Sonnenstrahlen aus,

und die monözische Wollemie,

seit Millionen Jahren verschollen,

hat sich neu hier angesiedelt —

und Farben: der Blauschotenstrauch, die Blutlaubigkeit

von Ahorn, Hasel und Birke, ein Prozeß der Natur,

rot auch das Grubenwasser

durch gelösten Eisenocker, der Fische erstickt

und Insektenlarven —

Tagesöffnungen,

Mundlöcher,

und auf einem alten Luftbild das pockennarbige Gelände —

Geheime Reichssache:

„brutal zuschlagen“ — „vernichten“ —

(10. April 1945) mit Stacheldraht gefesselt, Genickschuß,

in Bombentrichtern verscharrt, in den dünnen Löß,

zu Leichenbergen — die Widerstandskämpfer —

wirklich: in die Bäume verwachsen

die Taschentücher, die grüßende Hand.

Wenn im Ruhrgebiet, in Westfalen, das literarische Gold, bildlich gesprochen, auf der Straße liegt, erscheint es mir immer merkwürdig, daß es Autoren und Autorinnen nicht genauso stark hierher zieht wie nach Berlin. Die Literatur hat überall ihr Terrain, auch wenn die mediale Wahrnehmung zuweilen einseitig ist und die Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen, wie bereits gesagt, die Literatur nicht primär mit dem Ruhrgebiet in Verbindung bringen. Ein kleines Zeichen dagegen versucht die edition offenes feld, die ich in Verbindung mit dem Verein Offenes Feld e.V. herausgebe, dagegen zu setzen: Ranjit Hoskote und Arundhathi Subramaniam aus Indien, Hans Børli und Kjartan Hatløy aus Norwegen, Göran Tunström aus Schweden, Spoon Jackson aus den USA, Bianca Döring und Carsten Zimmermann aus Berlin erschienen im Ruhrgebiet und nicht in Berlin, nicht in München. Kurzum, so eine meiner Gedichtzeilen:

„Wo man wohnt, ist der interessanteste Ort der Welt.“

Deshalb versuche auch ich mit meinen Übersetzungen, die, obwohl fürs tägliche Brot, Teil meiner schriftstellerischen Arbeit sind, ein paar Verbindungen zu ziehen. Walt Whitman, der Dichter der Demokratie, scheint ohnehin mit dem Ruhrgebiet verbunden zu sein: vor meiner Gesamtausgabe haben ihn Georg Goyert, geboren in Witten, und Walther Küchler, geboren in Essen, übersetzt. Und wo hätte sich Whitman wahrscheinlich heimischer gefühlt als im Schmelztigelpott der Nationen? Doch von weiter nördlich als Manhattan, aus Concord, kommt folgendes Notat:

Der Aberglaube unserer Epoche ist:

die Frucht vor dem Katholizismus

die Furcht vor der Armut

die Furcht vor der Einwanderung

die Furcht vor den Herstellerinteressen

die Furcht vor Radikalismus oder Demokratie

und der Glaube an die Dampfmaschine.

Das klingt der heutigen Zeit nicht unvertraut, stammt aber aus Ralph Waldo Emersons Tagebuch aus dem Jahr 1848. Man sieht wieder, die Dinge liegen nahe beieinander. —

Ich kann und mag nicht beurteilen, ob es die Literatur im Ruhrgebiet schwerer hat, bei ihren Leserinnen und Lesern anzukommen, als anderswo. Ich bezweifle es beinahe. Sagen wir also: die Literatur hat nicht immer leicht. Und damit auch der Schriftsteller. Gerade dort, wo Menschen geballt wohnen, gibt es wenig Respekt vor dem Bedürfnis eines Autors nach der für seine Konzentration nötigen Stille: monatelange Umbauten, täglich geschwungene Gartengeräte und anderes lärmendes Unheil reduzieren die Anzahl der entstehenden Bücher um manchen Titel. Darüber immer wieder zu schreiben, aus dem Unmittelbaren, ist beinahe eine Überlebensstrategie, und so ist es ein schiefer, verquerer, zähneknirschender Dank, den man auch solchen Umständen abstatten muß:

In meiner Nachbarschaft

haben viele enorme Lust an Konstruktionen,

sie sehen sofort, wenn etwas undicht ist

oder klappert, doch keiner liest

Gedichte, die genauso funktionieren.

Sie programmieren Computer,

stellen die verstiegensten Berechnungen an

und bekommen ihre Steuererklärung in den Griff,

aber Gedichte finden sie unverständlich.

Woher dieser Haß auf die Namen:

Schaumkraut, Wegerich, Sonnengünsel,

und warum tauscht man die gesprenkelte Wiese

gegen penibel geschorenen Rasen?

Das Haus ist kein Gebärmutterersatz,

Milliarden von Nägeln & Dübeln

kreischen zum Freizeitspaß,

doch werden die Wände nicht ewig halten.

Kein Geräusch machen die Schritte

des schweren Mannes,

wie Schatten von Vögeln

über den unzerknickten Gräsern,

Bewohner des Silbenhauchs.

Ich wünschte, daß ich sagen könnte, die Literatur ist die wahre Demokratin, doch selbst in ihr gibt es das übliche Gehacke um Rangordnungen. Trotzdem —: was der Literatur dann doch gelingt und was sie so attraktiv macht, ist ihre Vielstimmigkeit. Zu lesen heißt, Stimmen in sich aufzunehmen, sei es aus der Vergangenheit oder Gegenwart, aus der eigenen oder einer fremden Sprache, zu lesen heißt, Verständnis und Toleranz für andere Sichtweisen zu entwickeln, es heißt, die eigene Sicht zu erweitern und kreativ mit den Stimmen umzugehen. Bildung ist ja kein Selbstzweck, sondern eine neugierige Erkundung, eine Seh-Schule, eine Sinnen-Schule:

vier stunden ließ sich turner

an den mast eines schiffes binden,

um das gepreßte grau zu malen,

das keinen raum gestattet

zwischen luft und wasser, von dem abgesehen,

den die hoffnungslosigkeit einnimmt.

im garten hilft sich ein anderer artist

soeben mit aktivismus über die magerzeit

und turnt in den kastanien,

wobei sein schwanz

energisch hellbraun aufgerüschte striche

in die kahlstellen der äste zieht.

Wenn ich mich in meinen Texten oft auf Gestalten aus der Zeitenferne beziehe, will ich damit zeigen, daß sie uns Heutigen so fern nicht sind, daß es menschliche Konstanten gibt. Und wenn ich, aus der Lektüre zutage gefördert, ungewöhnliche, seltene Worte einmontiere, sind sie kein Protzschmuck, sondern der Wunsch nach Präzision, die solche Worte gestatten — denn warum sollte die Literatur nicht etwas mit der Exaktheit der Naturwissenschaft ausdrücken, wenn das ohne weiteres möglich ist? Insofern ist der Autor ein Sammler, er bringt seltene Worte nach Hause wie Fossilien oder versteinerte Artefakte. Man will ja die Worte nicht verkümmern lassen, diese Sensorien und Echolotungen der Welt, wie man auch seine verschiedenen Sinne nicht verkümmern lassen möchte.

Ich erwähnte vorhin die Verbindungen zu anderen Weltteilen, die mittels Übersetzungen hergestellt werden — ; es lassen sich diese Verbindungen ganz konkret nutzen, nämlich im Dialog mit den Autoren aus anderen Ländern und anderen Sprachen, denn am Ende soll die Dichtung ja ein Dialog in mehrere Richtungen sein, unter den Autoren selbst, aber auch zu den Leserinnen und Lesern. Hier ein Gedicht, das ich für den geschätzten Kalifornischen Kollegen Dana Gioia schrieb, wobei ich den Titel eines seiner Gedichte zitiere, das wiederum Shakespeare zitiert:

worte, worte, worte

die arten des todes sind viele,

zuletzt unterscheiden sie sich kaum,

diese katastrophen und unglücke:

verdämmern in der eignen pisse,

der sprung von einer brücke,

die bomben im kofferraum

oder ein leben ohne ziele:

zu wenig kitt für all die risse.

jeder sieht zuerst häßliches,

dies- oder jenseits des atlantik.

leichter entfährt kehlen ein fluch,

schwimmen die skandale oben,

als daß morgens kaffeegeruch

mit häuserverbindender semantik

hineinweht in verläßliches.

laß sie grasen, rennen, toben,

worte wie aus einem bestiarium:

einige können eisen verdauen

andere sind lithophagen,

wir schlucken welten, ungeheuer

neugierig und im vormagen

erinnerungen, die spät abflauen:

nichts geht sofort im blut um,

worte sind wiederkäuer.

Sie sehen, meine Damen und Herren, es gibt reichlich Dank zu sagen, den Worten und den Dingen, die man in Worte fassen kann, den Stimmen, die einen anregen — und nicht zuletzt und vor allem dem Einen Menschen, der es einem ermöglicht, der zu werden, der man sein möchte! Denn neben dem nötigen finanziellen Freiraum für neue Werke, wie ihn eine Ehrung wie der „Literaturpreis Ruhr“ für einige Monate gewährt, ist es nämlich vor allem die innere Haltung den Dingen gegenüber, die einen zum Autor macht.