Essen. . Ian McEwan präsentiert sein neues Werk „Die Nussschale“. Es enthält Spuren von Shakespeare, der „Blechtrommel“, Monty Python und Mr. Bean.
Ian McEwan ist eine der großen literarischen Stimmen Großbritanniens. Von „Der Zementgarten“ bis „Abbitte“ untersuchte der 68-Jährige Liebe, Lügen, (Familien-)Geheimnisse, überraschte mit einem Anti-Terror-Roman („Saturday“) oder Fachwissen über erneuerbare Energien („Solar“). Die aber bislang eigenwilligste Erzählperspektive wählte er im neuen Roman „Nussschale“: Aus dem Bauch heraus beschreibt er hier die Welt – aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes.
Das ist, wie schon der Titel verrät, unterfüttert durch Landsmann Shakespeare, gleichwohl wird diese Blechtrommel mit der Schlagkraft britischen Humors bearbeitet. Subversiv wie Monty Python, absurd wie Mr. Bean serviert uns McEwan hier ein sehr besonderes Dinner for One.
„Oh Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären“: Dieses Hamlet-Zitat geht der Posse voraus. Wie der dänische Prinz muss der Fötus miterleben, dass seine Mutter Trudy seinen Vater John mit dessen Bruder Claude betrügt: einem tumben Bauunternehmer den Vorzug gibt vor einem wortgewandten, gleichwohl melancholischen Lyriker. Noch immer lebt Trudy im Haus des Noch-Gatten, und weil die marode Londoner Villa unterdessen Millionen wert ist, plant sie mit Claude einen heimtückischen Mord – ganz modern mit Frostschutzmittel in einem Smoothie aus Johns Lieblingsladen in der Judd Street.
Erstaunliches Weltwissen eines fötalen Erzählers
So weit, so realistisch. Denn auch, wenn McEwan das erstaunliche Weltwissen seines fötalen Erzählers durch übermäßiges Radiohören und dessen arg schwungvolle Welterklärungsversuche durch mütterlichen Weißweingenuss erklärt, sind Intellekt und Sprachmacht des Ungeborenen so absurd voll entwickelt wie einst bei Günter Grass’ Oskar Matzerath. Und wie der Held der Blechtrommel vermag auch McEwans Fötus durch Zeit und Raum zu reisen, um die losen Enden der Erzählung zusammenzuführen.
Wer absurde Komik und geistreiche Gegenwartsdiagnosen schätzt (und wer immer schon mal Sex-Szenen aus der Innensicht des weiblichen Körpers erleben wollte), der wird sich mit diesem Roman gut amüsieren – auch wenn er nicht die Wucht und Strahlkraft von McEwans großen Würfen entwickelt.
Die Furcht, nicht geliebt zu werden
Bleibt ein letzter, berührender Gedanke: Was den ungeborenen Erzähler im tiefsten Innern umtreibt, ist die Furcht, nicht geliebt zu werden – nicht von der Mutter, vom Vater, nicht von der Welt: „Ich fürchte mich vor Zurückweisung.“ In einem Doppelgespräch mit Landsmann Julian Barnes erzählte McEwan soeben in der „Zeit“, dass er als Elfjähriger aufs Internat geschickt wurde: „Ich war 2000 Meilen weit weg von zu Hause. Die Bindung zu meiner Mutter war sehr eng. Es war ein Schock, nicht mehr bei ihr zu sein, aber ein stiller Schock. Ich zog mich vollständig in mein Inneres zurück, um zu überleben.“ Genau hier, in der Nussschale des eigenen, auf sich geworfenen Selbst, begann womöglich das Werden eines großen Schriftstellers.