Essen. Zum 80. Geburtstag: Die preisgekrönte Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger im Gespräch über junge Menschen, ihre eigene Kindheit und ihre Bücher.

Christine Nöstlinger ist eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Kinderbuchautoren. An diesem Mittwoch feiert sie ihren 80. Geburtstag. Maren Schürmann sprach mit ihr über die Wirkung von Büchern.

Haben Sie Ihren zwei Enkelkindern eigentlich je vorgelesen?

Christine Nöstlinger: Ich habe weder meinen Enkelkindern noch meinen Kindern vorgelesen. Das wollten die nie haben. Die haben selber gelesen.

Dabei soll es für die Entwicklung eines Kindes so wichtig sein . . .

Nöstlinger: Vielleicht, wenn sie selbst nicht lesen wollen. Lesen ist eine intime Beschäftigung, das macht man gerne allein. Aber ich habe viele Geschichten erzählt.

Wie viel Kind steckt noch in Ihnen?

Nöstlinger: Wenn man über einen Boden mit großen Fliesen geht: Ja auf keine Fuge steigen! Das zelebriere ich heut’ noch. Und find’ das sehr lustig. Außerdem kann ich mir sehr kindliche Gedanken machen.

Welche zum Beispiel?

Nöstlinger: Wie ich auf Kinder reagiere. Gewisse Kinder sind mir sehr unangenehm. Ich hab die gleichen Abneigungen gegenüber ihnen wie ich sie als Kind hatte. Ich rufe mich dann als erwachsener Mensch zur Räson.

Welche Kinder sind das?

Nöstlinger: Ich gehe manchmal zu Lesungen in Schulklassen, wenn dann eine so da sitzt, extensiv aufzeigt und immer den Arm so hoch reckt und dann noch erklärt, sie ist die Rechenkönigin der Woche, dann muss ich mich echt beherrschen, dass ich überhaupt antworte und dieses arme Wesen nicht ignoriere.

Können Sie mit den Kindern heute überhaupt noch etwas anfangen?

Nöstlinger: Zum Teil. Je kleiner sie sind, desto besser. Aber ich würde es nicht mehr wagen, Bücher für 14-Jährige zu schreiben. Ich verstehe zu wenig von ihnen. Ich verstehe nicht, warum ein Mensch 30-mal am Tag ein Selfie von sich macht, ich verstehe nicht, warum jemand auf Facebook bekannt gibt, dass er gerade ein Butterbrot gegessen hat. Es ist mir fremd. Und Kinder- oder Jugendbücher muss man so schreiben, dass man sich in den Helden hineinversetzt. Ich bin da unsicher.

Als Sie Kind waren, herrschte Krieg. Wie war das für Sie?

Nöstlinger: Ich kannte Frieden nicht. Ich wusste mit dem Wort nichts anzufangen. Mein Vater war ja in Russland als Soldat, da habe ich meinen Großvater gefragt: ,Was heißt denn Frieden?’ Er hat gesagt: ,Wenn die Sozialdemokratie wiederkommt.’ Damit habe ich noch nichts anfangen können. Da habe ich meine Mutter gefragt, was Frieden heißt. Sie hat dann gesagt: ,Wenn es wieder Schinken, Semmeln und Schokolade gibt.’ Ich war 1945 bitter enttäuscht, die Sozialdemokratie kam nicht, Schinken, Semmeln gab es keine und Schokolade auch nicht.

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Haben Sie aus dieser Zeit etwas fürs Leben gelernt?

Nöstlinger: Ja, ich hab einen gewissen Pessimismus gelernt. Dieses Warten aufs Kriegsende, dass alles herrlich wird. Und es war nichts herrlich nachher. Ich hätt’ mir gewünscht, dass endlich diese ganzen Nazis eingesperrt werden, lebenslänglich! Keiner ist eingesperrt worden und alle waren’s noch da.

Aber hätten Sie sich vor 20, 30 Jahren vorstellen können, dass die Welt so sein wird, wie sie heute ist?

Nöstlinger: Nein, nein, wirklich nicht. Vor 30 Jahren habe ich geglaubt, wir gehen alle wesentlich besseren Zeiten entgegen. Ich bin wirklich bedrückt, dieser ganze Hass . . .

Können Kinderbücher manches wett machen, was in der Gesellschaft schiefläuft?

Nöstlinger: Also, Tucholsky hat gesagt: ,Mit zehn Fingern auf der Schreibmaschine kann man die Welt nicht verändern.’ Das kann man auch mit der Computertastatur nicht.

Aber in den 70ern wollten Sie das?

Nöstlinger: Ja. Aber ich animiere Kinder nicht mehr dazu, sich zu wehren, aufmüpfig zu sein. Irgendwo ist mir der Glaube abhanden gekommen, dass das Wirkung haben könnte.

Was hat Sie resignieren lassen?

Nöstlinger: Das größte Lob, was ich immer wieder höre, ist: ,Ihre Bücher haben mich so getröstet.’ Das war nicht meine Absicht.

Sie wollten, dass sich die jungen Menschen äußern, politisch werden?

Nöstlinger: Ja, irgendwie schon.

Wie haben Sie Ihre Mutterrolle verstanden, als Sie Ihre Töchter bekommen haben?

Nöstlinger: Ich habe versucht, eine partnerschaftliche Rolle zu haben. Ich halte nicht viel von Erziehungen. Natürlich erzieht man seine Kinder insofern, dass man ihnen ein Vorbild abgibt. Aber ich habe sie nie bestraft. Ich wäre mir auch so lächerlich vorgekommen.

Und wie fühlt es sich an, 80 Jahre alt zu werden?

Nöstlinger: Ich habe nie geglaubt, dass ich 80 werde. Ich bin ja nicht sehr gesund. Es verblüfft mich irgendwie. In meinem Alter waren schon die ganzen runden Jubiläen, der 60. der 65., der 70., der 75. – es wird etwas langweilig. . . Natürlich, wenn sich niemand um mich scheren würde, wäre es mir auch nicht recht.