Mülheim. Der Kleinstaat, ein globales Dorf: Großer Beifall für den Büchner-Klassiker „Leonce und Lena“ im Theater an der Ruhr.

Eine Premiere im Theater an der Ruhr, die nicht in den Händen Roberto Ciullis liegt, ist zwar nichts Neues mehr – doch weiß man: Auch sie steht im Zeichen der Kronprinzensuche. Der Theatermagier ist 82. Zu ersetzen wird er nicht sein. Und ist es nicht gar, wie im Falle Pina Bauschs, hoffnungslos, zu glauben, man könne ohne diese charismatische Größe einfach so: weiter Kunst machen?

Roberto Ciulli (im Januar kommt sein „Peer Gynt“, radikal auf zwei Personen reduziert, von denen eine der Theatermacher selbst sein wird) am Donnerstagabend also im Zuschauerraum. Auf der Bühne: Büchner in der Deutung von Philipp Preuss.

„Leonce und Lena“ – Preuss sagt dem trauerumflorten Märchen aus deutscher Kleinstaaterei entschieden kalt Lebewohl. Seine Helden sind in der Welt eines einzigen globalen Dorfs angekommen: Automatenwesen, denen das digitale Zeitalter den letzten Funken Identität entsteißt hat.

Puppenhaftes Spiel im Reiche König Peters von Popo

So entrollt sich das fast ungebrochen puppenhafte Spiel im Reiche König Peters von Popo zwischen hohlem Operettenstaat, Müßiggang und einer von bedrückender Leere befeuerten Hinwendung zur Liebe, vor jenen gleißenden Diodenketten, die Ramallah Aubrechts kahle Bühne begrenzen.

Königssohn Leonce (Fabio Menéndez) und sein Vater Peter sind bei Preuss eins, dafür vervierfacht die Regie den Diener seines Herren: Valerio, Dämon und Faultier, Hofnarr und Hellsichtigen, streut Preuss über die schlohweiß hüftlang perückierten Köpfe von Thomas Schweiberer, Peter Kapusta, Klaus Herzog und Rupert Seidl. Ein Coup: Was für ein Komikerquartett! Shakespeares Sommernachts-Handwerkern nah und doch schaurig wie hungrige Lemuren. Mit ihnen, diesen geschlechtslosen Wiedergängern, serviert uns das Theater an der Ruhr ein Buffet subtilster Schauspieler-Delikatesse, die man die ganzen Eindreiviertelstunden nicht satt wird.

Verdaut vom Fortschritt

Und es erzählt, wie Leonce als Letzter verdaut wird, vom persönlichkeitsfressenden Fortschritt, den Büchner prophezeit („bin ich das, oder das?“) und den Preuss als Kind des 21. Jahrhunderts täglich erlebt. Wenn die Konkubinen-Erotik Rosettas (Simone Thoma webt sie fein gespenstisch) in Leonce ihr Echo nur noch im mechanischen Wischen übers imaginierte Smartphone findet, dann hat dieser konzentrierte, in seiner sprachlichen Wachheit oft bestechende Abend, den Gipfel deprimierender Einsicht erreicht. Ähnlich die szenische Studie eines Besäufnisses, das von Stonsdorfer bis Planters Punch mit nichts kocht als Wasser. Wie wäre jener billige Flatrate-Schwindel, der sich Rausch von Überfluss verspricht, besser zu illustrieren?

Leichte Längen und ein Bündel allzu üppig aktivierter Rollenausstiege („Früher war das Theater hier auch anders!“) verwässern den Abend kaum. Großer Beifall.
Termine/Karten: 0208 599010