Marl. . Aus der Wüste in den Kohlenstaub: „Die Fremden“, eine Romandramatisierung in der Regie von Johan Simons bei der Ruhrtriennale in Marl
Sie sind Giganten, sie sind dreckig, hässlich und nicht mal mehr vor Arbeit ganz grau, aber Ruhrtriennale-Chef Johan Simons scheint sich verliebt zu haben in die Kohlemischhallen des Reviers. Nachdem er 2015 in Dinslaken-Lohberg Pasolinis „Accattone“ in den Kohlenstaub versetzt hat, reist das Triennale-Publikum nun ans andere Ende des Ruhrgebiets, zur Zeche Auguste Victoria, bei der Gründung 1899 benannt nach der Frau an der Seite Wilhelms II. Im Dezember 2015 war hier Schicht am Schacht, und die Kohlenmischhalle ist gepflastert mit den photovoltaischen Energieträgern des 21. Jahrhunderts, die einstige RAG macht Kohle mit Erneuerbaren.
Und diesmal ist der grauschwarze Staub das Pendant zum Wüstensand: Johan Simons setzt hier Kamel Daouds Roman „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ in wirkmächtige Bilder um. Der Roman ist eine fragende, klagende Antwort auf einen Weltbestseller, einen Klassiker der existenzialistischen Literatur: Albert Camus’ Roman „Der Fremde“ (1942), in dem der in Algerien lebende Angestellte Meursault am Strand einen Araber erschießt und den Mordprozess wie seinen Gang zur Guillotine teilnahmslos hinnimmt. Er ist der Fremde – sich selbst, den anderen, den Lesern. Aber er hat einen Namen. Der Araber jedoch wird 25 Mal nur so genannt, er bleibt anonym.
Das ist der Ausgangspunkt von Daouds „Gegendarstellung“, er erfindet dem Erschossenen einen Namen, eine Geschichte, eine Familie. Vor der monströs riesigen Kohlenmischanlage, einem Inbegriff von Industrie und Kapital, die sich im Laufe des gut 100-minütigen Abends irgendwann in Bewegung setzen und von ferne den Hintergrund abgeben wird. Hier sitzt das Orchester, das vorwiegend illustrative Klänge spielen wird, Kammermusik von Mauricio Kagel und György Ligeti – nur Claude Viviers „Bouchara“ in der Mitte mit der Sopranistin Katrien Baerts wird eine utopische Magie entwickeln, Sehnsucht und Schönheit in einer kontinentalübergreifenden Phantasiesprache.
Zunächst jedoch hockt das kleine Ensemble im Blaumann beim Orchester. Elsie de Brauw, die wie alle hier zeitweise den Erzähler spielen wird, gießt Wasser in den Kohlenstaub, bis die Konturen eines Strichmännchens da sind, das unweigerlich an Meursaults Opfer denken lässt. Peu à peu steigen die Darsteller aus ihrem Blaumann. Sandra Hüller wird zur schönen Meriem, die nach Jahrzehnten dem Fall des erschossenen Arabers nachspürt und dabei alle Grenzen zwischen Autor, Figuren, Wirklichkeit und Roman verwischt. Sichtbar wird das Gift des Kolonialismus, das bis in die intellektuellen Fasern der europafixierten Kultur gestiegen ist, der Aufstand der Algerier gegen die Franzosen kommt ins Spiel und dann auch die heutige Flucht nach Europa. Videosequenzen von Aernout Mik erzählen davon, zuletzt auf einer XXXL-Wand, die sich vor die Kohlenmischanlage schiebt, während Scheinwerfer aus dem Hintergrund gespenstische Lichtschneisen auf den Kohlenstaub legen. Im Film wird aus der Halle ein Aufnahmelager für Flüchtlinge, der Kreis schließt sich ins Heute, da die europäische Zivilisation sich schützt vor Schmerz und Mitleid, wo immer Flüchtlinge nur Masse sind, Nummern, Fälle, Fremde. Man hat es geahnt, ja gewusst, aber hier wird es ausgesprochen bewusst und laut.
Johan Simons verknüpft das mit brachialer Fundamentalkritik an den Religionen dieser Welt, mit Nietzsche und anderen durchaus zweischneidigen Kronzeugen. „Mir graut vor den Religionen. Vor allen! Weil sie das Gewicht der Welt verfälschen,“ ist so ein Satz von Kamel Daoud, bei dem Bundespräsident Joachim Gauck im Publikum jedenfalls die Ohren geklungen haben müssen. Er hatte dort, von schüchternem Applaus begrüßt, zu Beginn der Uraufführung neben Johan Simons Platz genommen. Andererseits könnte es ihm als Theologen behagt haben, dass die Inszenierung aus mindestens so viel Bekenntnis wie Kunstanstrengung besteht.