Mülheim/R. . Ein 600 Seiten starkes Textfragment von Brecht, viele Interpretationen: Bei den Fatzer-Tagen im Ringlokschuppen gibt es asiatisches Schauspiel, Untergangsshow und Performance.

Brechts „Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ sollte eine Mischung aus Epischem Theater und Lehrstück werden: Im Ersten Weltkrieg desertiert eine Handvoll Soldaten und versteckt sich bei der Frau des einen in Mülheim. Sie spekulieren auf die Revolution, während ihr charismatischer Anführer Fatzer mehr mit sich selbst beschäftigt ist, gedanken- und weltverloren zugleich. Doch das kammerspielartige Stück über die Widersprüche von Revolution und Lebensgier, von Enteignung und Eigenheit, von Utopie und Gegenwart lief Brecht aus dem Ruder, nach vier Jahren und 600 Manuskriptseiten gab er 1930 auf, das Stück blieb Fragment.

An dem Material – Szenen, Varianten, Streichungen, Chöre, Reflexionen über Gesellschaft, Geschichte und Theater – haben sich bis heute nicht nur Generationen von Germanisten abgearbeitet, sondern auch Theaterleute mit dem legendären Heiner Müller an der Spitze. Und seit 2011 ruft der Ringlokschuppen am Fatzer-Spielort Mülheim alljährlich die Fatzer-Tage aus.

Und auch in diesem Jahr spielen Bühnen-Annäherungen an das Riesen-Fragment neben einer wissenschaftlichen Debatte die Hauptrolle. Geradezu spektakulär: die Theatertruppe Chiten aus dem japanischen Kyoto gibt ihre „Fatzer“-Version zum Besten. Regisseur Motoi Miura, der eine Übersetzung des Textes ins Japanische in Auftrag gab, hat schon Cechovs „Möwe“ oder Jelineks „Sportstück“ auf Japanisch so inszeniert, dass aus den fertigen Stücken Fragmente wurden; deshalb sei auch der „Fatzer“ für ihn ein fertiges Stück, lächelt Miura: „Die Zuschauer werden keine fertige Bedeutung mit nach Hause nehmen können, darin bleibt auch meine Inszenierung wieder Fragment.“ Die Japaner nutzen den für sie glücklichen Umstand, dass bei ihnen daheim das Copyright bereits 50 Jahre nach dem Tod eines Künstlers erlischt, während es in Deutschland 70 Jahre hält.

„Große Untergangsshow“ und „F++++R live“

Von einer ganz anderen Seite nähert sich das Saarländische Staatstheater Brechts Text: Alexandra Holtsch sampelt und montiert aus dem Fatzermaterial im Sinne von Brechts Faible für Varieté und Karl Valentin eine „Große Untergangsshow“ mit Tendenz zum „lustvollen freien Denken am Rande des Abgrunds“.

Unter dem Titel „F++++R live“ wird eine Berliner Formation dann die Verwandlung von Fatzertexten in Songs leisten; das Performance-Konzert aus Elektro, Glam- und Kraut-Rock soll die sinnliche Seite des Textes betonen.

Die Eckdaten in Kürze

Programm im Ringlokschuppen Mülheim: 8. Juli – 19.30 Eröffnung, ab 20 Uhr: Chitens „Fatzer“ (jap./dt. Obertitel). 9. Juli – 12.30 Uhr: Symposion „Not, Lehre, Wirklichkeit“. 18 Uhr: Fatzer, Saarl. Staatstheater, 20 Uhr Chitens „Fatzer“, 22 Uhr: F++++R live; 10. Juli: 11 Uhr Künstlergespräch; 16 Uhr: Fatzer, Saarl. Staatstheater. Festivalkarte: 28 €, erm. 14 €. AK 35 €, erm. 18 €.