Dortmund. . Der Dortmunder Theaterintendant Kay Voges webt im Projekt „Die Borderline-Prozession“ einen monströsen Bilderteppich.
„Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben“, verspricht eine Tafel beim Eintritt in die Halles des ehemaligen BVB-Megastores in Dortmund-Hörde, derzeitiges Ausweichquartier des hiesigen Theaters. Drei aufregende Stunden später weiß man, dass der Abend nicht besser hätte charakterisiert werden können. „Die Borderline Prozession“, erdacht in der Dramaturgie des Hauses und realisiert vom Intendanten Kay Voges, ist ein monströser Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera.
Die „Borderline Prozession“ kann schon allein durch die räumliche Ausdehnung des Spielortes sehr viel weitergehen als alles, was im Theater schon versucht wurde. Ein komplettes Haus mit zehn Zimmern und Dachterrasse hat Bühnenbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch in den Megastore gestellt, dazu noch außen eine Bushaltestelle, einen Parkplatz und einen Kiosk. Wer sich hier orientieren will, sollte trotz Voxi Bärenklaus rollender Video-Kamera auch mehrfach selbst die Perspektive wechseln. „Erster Versuch“ heißt es zu Beginn auf den Monitoren, was auf die Vorläufigkeit des Projekts schließen lässt. Aber auch der Zuschauer sollte gewiss sein, dass ein einmaliger Besuch hier eigentlich kaum ausreichen wird, denn bei Voges ist die Überforderung Programm: 23 Schauspieler, zehn davon Folkwang-Studenten, tauchen hier in rund 50 Rollen auf, auf den Monitoren wechseln ständig Sätze kluger Philosophen, ein unentwegter Musikteppich reicht von den „Talking Heads“ bis zu Gustav Mahler.
Am Anfang jeden Kapitels ziehen alle singend ums Haus, um sich danach zur Lesung der Genesis allmählich auf die Räume zu verteilen. Wir tauchen ein in die Gleichzeitigkeit: Hier ein einsamer Mann, der sich sein trauriges Butterbrot schmiert, dort schaut ein Mann seiner Frau beim Schlafen zu, hier sieht man ein Pärchen bei der Abendtoilette, dort eine Mutter, die ihren Sohn zur Schule schickt. Auf der düsteren „Draußen“-Seite, der „Poor Side of Town“, irrt derweil ein Fremder orientierungslos herum, präsentiert sich ein Call-Boy im Schaufenster, wird der Kiosk geöffnet. Noch ist alles fast beschaulich.
Das ändert sich Fatal im „Crisis“-Teil, der nun plötzlich die Brutalisierung der Gesellschaft angesichts weltweiter Konflikte wiederspiegelt. Schwer bewaffnete Soldaten sichern ein Haus, ein Mann und eine Frau haben Sex an der Bushaltestelle (im Beisein eines Dritten), eine Frau wird im Auto vergewaltigt, während ein Pfarrer dazu masturbiert. Ein Zimmer im Haus dient plötzlich als Folterwerkstadt, während die Zerwürfnisse in den anderen Zimmern sich augenscheinlich häufen. Eine Flut von Eindrücken nimmt man in sich auf, um gleichzeitig frustriert zu erkennen, dass man Vieles verpasst hat.
Was Voges hier gelingt und was in seiner Komplexität zu beschreiben kaum noch möglich ist, das kann man sich derzeit eigentlich an keinem anderen Theater des Landes vorstellen. Es ist ein großer Abend, auch wenn man mit dem Schluss in der Zukunft so seine Schwierigkeiten haben kann. Da nämlich werden alle Mitwirkenden plötzlich zu rasenden „Lolitas“ in braver Schulkleidung, verführerische Kreaturen einer Umkehrwelt, die man Kunst nennen könnte. Jedenfalls wird der Künstler Jonathan Meese hier ausfürlich zitiert, der in solchen Lolitas künstlerisch revolutionäres Potential entdeckt haben will. Ein lärmendes, wenig überzeugendes Ende.