Essen.

Über vier Jahrzehnte im deutschen Südwesten und ein Intermezzo im irischen Galway haben seinem Ruhrgebiets-Zungenschlag wenig anhaben können. Jürgen Lodemann, bekennender Ruhri und Homme de Lettre, hat als Journalist mit der SWR-Bestenliste das Qualitäts-Gegenstück zur Bestsellerliste erfunden – und als Romanautor wie kein zweiter den Siegfried-Mythos auf dem Boden historischer und sprachlicher Tatsachen nach Essen und Xanten heimgeholt, im romanhaften „Siegfried und Krimhild“ wie im Theaterstück „Siegfried“.

Mutter aller Revier-Krimis

Lodemann, der am Ostermontag vor 80 Jahren in Essen zur Welt kam, hat als Redakteur des Südwestfunks eine Reihe von eindrücklichen Dokumentarfilmen gedreht, über die Bagdadbahn etwa, über die Lodemann jüngst noch Vorträge in Ankara und Istanbul hielt. Über Essens Kettwiger Straße, über Samothrake, das Erdbebenland Kalifornien und die Zürcher Spiegelgasse, mit Martin Walser ist er gar von Duisburg nach Dortmund Straßenbahn gefahren durch ein qualmendes Revier.

Lodemann hat mit dem „Literaturmagazin“ und dem „Café Größenwahn“ gut 250 Büchersendungen im Fernsehen moderiert (und musste dabei den Skandal um Al­fred Anderschs Berufsverbot-Gedicht „Artikel 3“ durchstehen). Sein letzter Film „Deutschlands schönster Fluss: die Ruhr“ kam nicht mehr zustande, weil Lodemann 1995 lieber die Chance nutzte, die ungeliebte Fernsehanstalt zu verlassen. Er konzentrierte sich auf das Schreiben von Romanen, das er mit der 1975 erschienenen „Anita Drögemöller“ begonnen hatte, der Mutter aller Revier-Krimis. Der Ritterschlag Max von der Grüns lautete: „Ich habe noch kein Buch gelesen, das so ,reines’ Ruhrdeutsch wiedergibt.“

Überhaupt arbeitet Lodemann, der heute im ultragrünen Vauban-Viertel vor den Toren Freiburgs lebt, in der Tradition von Joyce und Arno Schmidt stark mit dem Klang und den Wurzeln der Wörter, als traditionsbewusster Avantgardist, mit sprachgeschichtlicher Phantasie und Genauigkeit und freihändigem Umgang mit Satzzeichen, was auch mal einen Roman mit einem unvollendeten Satz enden lässt.

Irisches Paradies und atomare Hölle

„Der Solljunge“ reminisziert das Aufwachsen im Essen der Hitler- und Nachkriegszeit. „Lynch“, der später „Paradies, irisch“ hieß, arbeitet sich in saftigen Bildern an der Möglichkeit von Utopien ab, und „Salamander“, der 2011 sein letzter Roman sein sollte, nahm die gesellschaftliche Anerkennung der Hermaphroditen als „drittes Geschlecht“ vorweg, die vom Bundestag später in ein Gesetz gegossen wurde. So wie das marode, auf geologischem Problemgebiet stehende französische Atomkraftwerk Fessenheim erst jüngst in den Fokus der Öffentlichkeit geriet, drei Jahre nachdem Lodemann der drohenden Katastrophe durch diesen Meiler eine Novelle gewidmet hatte. Die Republik kann sich glücklich schätzen – literarische Aufklärer wie er sind selten geworden.