Vier Tage nach seinem 70. Geburtstag, zwei Tage nach einer verheerenden Krebsdiagnose, starb der Kultrocker Lemmy Kilmister in Los Angeles.

Es ist noch gar nicht so lange her, da bekannte Lemmy Kilmister, er mische jetzt neuerdings Orangensaft in seinen Wodka, sein Arzt habe ihm Vitamine verordnet. Vielleicht war er es ja auch, der neulich noch ratlos auf eine Kreidetafel gekritzelt hat: „Wann ist aus Sex & Drugs & Rock’n’Roll eigentlich Veganismus, Laktose-Intoleranz und Helene Fischer geworden?“

Lemmy, wie alle Welt ihn nannte, war über Jahrzehnte hinweg Rock’n’Roll auf zwei Beinen, für ihn war es kein Musik-, sondern der einzig wahre Lebensstil. Nicht von ungefähr hielt sich bis zuletzt das Gerücht, dass er der Roadie von Jimi Hendrix war, der dem Gitarrengott die Drogen beschaffte.

Basslehrer von Sid Vicious

Wahr ist allemal, dass Lemmy Kilmister, der am Montag in Los Angeles gestorben ist, vier Tage nach seinem 70. Geburtstag und zwei Tage, nachdem er von einer verheerenden Krebsdiagnose erfahren hatte, ein derartiges Urgestein der Rockmusik ist, dass er nicht nur die Beatles für die größte Band aller Zeiten hielt, sondern auch einer Punk-Ikone wie Sid Vicious das Bassspielen beizubringen versuchte. Vergebens übrigens. Wobei Lemmy seinen Bass nicht spielte, sondern malträtierte, als wäre es eine Gitarre – wenn er nicht gerade stur geradeaus in strikter Vermeidung jedweder Virtuosität den Rhythmus hämmerte.

Jack-Daniels-Reibeisen

Für diesen Ian Fraser Kilmister, am Heiligabend 1945 in Stoke-on-Trent in den düsteren englischen Midlands als Sohn eines Militärpfarrers geboren, der seine Familie schon bald im Stich ließ, war die Musik ein Weg, die Welt nicht vollständig jenen bösartigen, korrupten Politikern, raffgierigen Managern und sterbenslangweiligen Spießern zu überlassen, die seine Songs an den Pranger stellten – sofern man sein programmatisch heiseres Jack-Daniels-Reibeisen im Gewitter aus den Boxen noch vernehmen konnte. Schließlich hatte Motörhead, die Band, die Lemmy nicht nur gründete, sondern für den Rest seines Lebens war, stets den Ehrgeiz, die lauteste Band der Welt zu sein, „Ohrstöpsel sind unfair“, ließ sich Lemmy jüngst noch vernehmen, in einem Alter, in dem andere nur das Hörgerät abstellen müssen, um ihre Ruhe zu haben.

Ruhe war das Allerletzte, was der Mann haben wollte. Als man ihn bei der Space-Rock-Combo „Hawk­wind“ hinauswarf, für die er anfangs noch die Gitarren schleppte, bevor er hier drei Jahre den Bass bediente, gründete er „aus Rache“ eine Band. Und benannte sie wie seinen letzten „Hawkwind“-Song, nach dem Slang-Ausdruck für durchgeknallte Typen auf Speed: Motörhead.

„Bad Magic“ – das letzte Album schaffte es auf Platz eins

Die 22 Studioalben der Band seit 1977 schnurren im Zurücklauschen zu einem einzigen zusammen, das laut, schnell, dreckig, trotzig und cool daherkommt. Motörhead war immer Motörhead und immer sofort zu erkennen. Auf „Bad Magic“, dem letzten Album, das seine erste Nr. 1-Platzierung in Deutschland wurde, versuchte man sich zwar (vergebens) an einer Ballade, aber da war die stets unverkennbare Mischung aus Punk, Hardrock und Speed Metal längst ein Fels in der Klanglandschaft des Rock. Und nicht gerade ihr kleinster Verdienst dürfte darin liegen, ganze Generationen von Rockern dazu gebracht zu haben, ihr Ding zu machen, von Metallica bis zu Dave Grohls Foo Fighters, die allesamt unterschreiben würden, dass es sie ohne Motörhead nicht gäbe.

Der Helmut Schmidt des Heavy Metal

Lemmy galt zuletzt als Helmut Schmidt des Heavy Metal. Schließlich hatte er, als er bekanntgab, er habe mit dem Rauchen aufgehört, damit gemeint, dass er statt zwei Packungen nur noch zwei Zigaretten am Tag konsumierte. Der Ehrentitel hatte auch damit zu tun, dass Lemmy das Raushauen von kantigen Sätzen fast ebenso liebte wie das Basssaitenquälen im Akkord: „Rock’n’Roll ist definitiv nichts für alte Leute“, pflegte er etwa zu sagen, „das ist amtlich. Unser Geheimnis ist wohl, dass wir eigentlich immer noch Kinder sind.“ Dass der Rassismus-Hasser Kilmister ohne Ende Nazi-Krempel sammelte, ließen ihm die Fans stets als Spleen durchgehen, der mindestens so englisch war wie sein Backenbart, der die beiden berühmtesten Warzen der Rockgeschichte einrahmte. „Es sieht gemeiner aus, deutscher“, antwortete Lemmy grinsend, wenn man ihn nach den Ö-Strichelchen im Bandnamen fragte. Dass er bei seinem Lieblings-Game an der heimischen Konsole in Los Angeles gestorben sein soll, wundert nur diejenigen, die ihn eher an einem jener Geldspielautomaten vermutet hätten, an denen er sich bei Interviews oft die Zeit zu vertreiben pflegte.

Aber schwer vorzustellen, dass er jetzt in den ewigen Jagdgründen nicht mehr rausgeht auf die Bühne, an das viel zu hohe Mikrofon, und wie immer brüllt: „Wir sind Motörhead und wir spielen Rock’n’Roll“.