Nie hatte er Politiker sein wollen und doch wurde er zu einer zentralen Figur der Wende. Erinnerungen an Kurt Masur, der Samstag gestorben ist.

Als ich Kurt Masur vor gut einem Jahr in seinem Leipziger Haus besuchte, war er ein Gezeichneter. Stürze und die unerbittlich bohrende Parkinson-Krankheit hatten diesen Bären von einem Mann zu einer zerbrechlichen Erscheinung werden lassen. „Nur ei­ne halbe Stunde“, hatte es vorher geheißen. Seiner Kräfte wegen.

Doch Masur, so schwach er wohl war, erhob sich für seinen Gast kerzengerade vom Stuhl. Es war Höflichkeit, sicher aber war es auch jene nie nach eigenen Kräften fragende Disziplin gegen sich selbst, die jeder große Künstler braucht. Auf Masurs Flügel lag die Partitur zu Beethovens Neunter, nicht mit Staub bedeckt, sondern zum Arbeiten. Er hoffte, glaubte, wünschte wieder ans Pult treten zu können.

„Sie haben mir das Leben gerettet“

Am frühen Samstag ist der Dirigent, der deutsche Geschichte schrieb wie kein anderer, 88-jährig in einem Krankenhaus im amerikanischen Greenwich gestorben. Amerika war eine zweite Heimat geworden. Leipzig war die andere, die zentrale, die, die ihn in die Histtorie eingehen ließ. Das schmiedeeiserne Tor durch das ich trat, um Kurt Masur zu treffen: Es war der Ort, an dem Ungezählte am Tag nach dem 9. Oktober 1989 Blumen niederlegten – und Briefe. „In einem stand“, sagte Kurt Masur, beugte sich zu mir vor und es war zu spüren, wie ihn das auch 25 Jahre danach nicht kalt ließ: „’Danke! Sie haben mir das Leben gerettet.’“

Die Botschaft dieses Briefes steht für den Politiker wider Willen, der Masur wurde, als Scharen sich enttäuscht von der DDR-Führung abwandten, als die Stimmung in Leipzig, der Stadt „seines“ Gewandhausorchesters, „zum Platzen“, war, wie er selbst sagte. Es schlug die Stunde eines Mannes, der ganz oben stand – und dem man trotzdem zuhörte. Er wurde der Sprecher des Aufrufes „Keine Gewalt!“. Und Leipzig demonstrierte in Frieden. Es war eine Zäsur auf dem Weg zum Fall der Mauer ohne Blutvergießen.

Er hatte den Mauerfall nicht gewollt

Kurios genug, dass Masur diesen Mauerfall gar nicht gewollt hatte. Der gebürtige Schlesier verstand die DDR als seine Heimat. Die Werte des Sozialismus sah er durch Missbrauch ausgehöhlt, an ihnen selbst zweifelte er nicht. Er sorgte sich 1989 um jene kleinen Leute, für die der Westen etwas Unberechenbares werden sollte. Masur blickte in den Garten, der Rasen war voll von buntem Laub: „Wer diese Welt zu kennen glaubte, kannte sie doch nur aus dem Fernsehen.“ Am empfundenen Glück über die Wiedervereinigung hat das nichts geändert. Seine Rolle dabei schätzte er eher klein: „Die Helden waren die Menschen.“

Den Dirigenten Masur hatte die Musikwelt bewundert für einen sinnliche Zugang zum Wunderwerk eines Beethoven, Schumann oder Brahms. Es gab keinen verkrampften intellektuellen Überbau. Auch war Masur keiner, der in historischen Archiven hockte, um stolz einen halben ungekannten Takt zu präsentieren. Der gelernte Elektriker, der die DDR nie ganz verließ, der das neue Gewandhaus baute, der das Spiel mit den Mächtigen zum Wohl der Kunst oft gewann, war vor allem ein Musikant.

„Das Leben der Menschen etwas schöner machen...“

Als ich ihn – die halbe Stunde hatten wir längst unbemerkt verdoppelt – fragte, was der Sinn seines Lebens sei, da kam Politik in Kurt Masurs Antwort nicht vor: „Das Leben der Menschen etwas schöner machen zu können als es ohne Musik wäre.“

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Nahezu drei Jahrzehnte stand Kurt Masur als Dirigent dem traditionsreichen Leipziger Gewandhausorchester vor. Von 1991 bis 2002 war er dann Chef der New Yorker Philharmoniker, anschließend leitete er bis 2008 das Orchestre de Paris.

Künstler in aller Welt trauern um Kurt Masur. Die Berliner Philharmoniker erinnerten an „einen geradlinigen Musiker, der sich von entschiedenen (...) humanistischen Überzeugungen leiten ließ“.