Essen. . Fred Vargas könnte Agatha Christie als Queen of Crime ablösen. Ihr neuester Krimi „Das barmherzige Fallbeil“ vereint Intelligenz, Ironie und Amüsement
Agatha Christie, die sagenhafte Queen of Crime, ist seit fast vierzig Jahren tot. Ihre Nachfolge teilten sich zwei kluge Damen, die leider vor kurzem verstorben sind. Literarisch waren sie ihr weit überlegen, auch wenn sie nur einige Millionen Büchern verkauft haben – und nicht Milliarden wie Agatha.
Immerhin wurden sie von der hauptberuflichen Queen mit schönen Adelstiteln und Sitzen im House of Lords belohnt: P. D. James, Baroness of Holland Park, saß dort für die Konservativen, Ruth Rendell, Baroness of Baberg, für die Labour Party.
Und wie steht es jetzt mit der Thronfolge? Im Hause Windsor klärt man sie nach altem Brauch biologisch, in der Literatur ist es sehr viel heikler. Auch wegen der Stimmung in Europa. Denn nach Lage der Dinge kommt für den Krimi-Thron nur eine Dame aus dem Land in Frage, wo man das Königtum eines Tages einfach abgeschafft und die letzte Königin einen Kopf kürzer gemacht hat. Dabei spielte ja die Erfindung von Monsieur Guillotin, auf gut deutsch das „Fallbeil“, die entscheidende Rolle.
Historikerin und Archäologin
Und damit sind wir bei Fred Vargas, der französischen Historikerin und Archäologin Frédérique Audoin-Rouzeau, die ihre Leser seit zwanzig Jahren in den Bann ihrer Fantasie schlägt, wie bei ihrem Buch mit dem rätselhaften Titel „Das barmherzige Fallbeil“.
Dies ist der achte Roman einer Reihe, in der Jean Baptiste Adamsberg, Kommissar im 5. Arrondissement von Paris, jung, sympathisch und manchmal ziemlich durchgeknallt, höchst rätselhafte Fälle löst und seine kriminalistische „Brigade“ wie eine große Selbsterfahrungsgruppe dirigiert. So auch diesmal. Rätselhafte Mordfälle in und um Paris, nun ja. An jedem Tatort die Zeichnung einer Guillotine – seltsam. Dass aller Schrecken in einer längst vergangenen Gruppenreise nach Island wurzeln soll, wo todbringende Naturgeister im Schneesturm rasen? Immerhin originell. Wie aber dies ganze Geheimnis in Theatralik mündet, als Hunderte von Herren und einige wenige Damen in Perücken und Kostümen die historischen Events der Schreckensjahre 1793/94 nachspielen, das ist einfach virtuos, großes Erzähltheater, und ich versuche erst gar nicht, es im Einzelnen aufzudröseln.
Skurrile Fantasie
Fest steht aber: So wie Commissaire Adamsberg, das Genie der Intuition, mit all seinen Spleens in die Reihe der unvergesslichen Detektive gehört, so unverwechselbar ist Madame Vargas mit ihrer Kombination von Alltagsrealismus und skurriler, fast surrealistischer Fantasie.
Was bei Queen Agatha ein kompliziertes, aber trockenes Mordrätsel war, das veredelt ihre Nachfolgerin mit jener Mischung von Intelligenz, Ironie und Amüsement, die auf Französisch „esprit“ heißt und im Krimi so selten ist wie im Leben. Prickelnder Lesegenuss, Champagnerlektüre: „Vive la reine!“