Berlin. .

Die Frau kann schweigen. Aber als die Bundeskanzlerin letzten Winter London besuchte, sickerte doch sacht durch, dass sie ein bisschen mehr wollte, als sich den alten 1953er-Käfer im „British Museum“ zeigen zu lassen. Interessanter war da schon der große Gelehrte, der sie freundlich durch seine Deutschland-Schau „Memories of a Nation“ führte: Museumschef Neil MacGregor.

Merkel jedenfalls soll sich danach sogar ein bisschen bei David Cameron verspätet haben, so anregend und klug, so von Kundigkeit und gegenseitiger Wertschätzung getragen soll die Begegnung gewesen sein. Tatsächlich wusste die Kanzlerin damals längst, was die größte Ernte der Visite sein sollte: einen international renommierten Gründungsintendanten fürs Humboldtforum an Land zu ziehen. Es glückte, vermutlich schon im kalten Januar. Im April kam die offizielle Bestätigung.

Was MacGregor qualifiziert, wenn nicht die Tatsache, dass man ihn zu den besten Museumsdirektoren der Welt zählt? Diese neue Visitenkarte: Sie ist etwas groß, etwas schwer (1,78 Kilogramm) aber sowas von passgenau fürs Amt, dass jeder Kritiker über Merkels Coup vorerst verstummen wird.

Die Visitenkarte heißt „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ und ist, eben erschienen, gewissermaßen die rhetorische Langfassung jener vielbeachteten Schau, mit der MacGregor in London ein über Jahrhunderte sich erstreckendes Deutschland-Porträt geschaffen hatte. Besser gesagt: eine zu uns sprechende Dingwelt. Mit dieser Spezialität hat sich der diskrete Schotte schon vor Jahren zum Bestseller gemacht. Titel: „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“. Sie fing an beim Faustkeil, sie endete bei der Visa-Card und erreichte selbst Menschen, die sonst der Historie nur unwillig Aufmerksamkeit schenken.

Bierseidel und Dragonervase

Das Prinzip waltet auch bei den „Erinnerungen einer Nation“. MacGregor spaziert durchs Museum, schnappt sich eine Münze aus Lippe-Detmold, eine mittelalterliche Taschenuhr, eine kleine Bismarck-Statue – und beginnt seine Führung zu jenen Themen, die am Ende unsere Identität ausmachen. Mal sind es Bierseidel aus Bernstein (gleich zwei geschichtsträchtige Symbole), mal die Dragonervasen August des Starken, mal eilig gedrucktes Notgeld mittels derer MacGregor ins Erzählen kommt über dieses rätselhafte Gebilde Deutschland, das kleinteilig war und doch riesengroß, verbunden durch Luther, Goethe, Walhalla – oder die Liebe zur Wurst.

Aber es ist dieses Werk keine Anekdotensammlung. Ohne Neigung und Grundkenntnisse wird man den Reichtum kaum würdigen können, den der Autor vor uns ausbreitet, mit dieser Welt aus Hanse, Heiligem Römischen Reich oder Rheinbund und den vielen, uns heute kaum noch begreiflichen Zwisten, in denen Deutsche gegen Deutsche kämpften. Wie Siege und Erschütterungen Mentalitäten prägen bis heute, darüber schreibt MacGregor sehr genau, ja er sieht Deutschlands Einzigartigkeit eben darin, trotz aller Zersplitterungen nie daran gezweifelt zu haben, eine Nation zu sein. Eine Prüfung, die dem zentralistischen Verständnis Englands oder Frankreichs in dieser Dimension erspart geblieben sei.

Raffiniert spiegelt der Schotte im scheinbar Trivialen Mythen und Archetypen. Eben noch sind wir an seiner Seite im dunklen Märchenwald der Grimm-Brüder spaziert, dann aber sehen wir am gleichen Ort Hermann hinter der Teutoburger Eiche sein Schwert zücken. Und von Albrecht Dürers Künstlerkürzel schlägt er den Bogen zu den berühmten Adidas-Streifen...

Durchaus spielerisch ist MacGregors Technik der Vermittlung. Wie alle Universalgelehrten alter Schule scheut er Vereinfachungen nicht, nutzt das Pauschale, um Besonderes zu schärfen. Auch birgt der Wälzer keine Überraschung im klassischen Sinne: Diese Welt von Reinheitsgebot bis zu Karl Marx, vom Preußenkult bis zur Trümmerfrau ist uns Deutschen ja nun nicht fremd. Aber wie MacGregor Bezüge herstellt, wie er, der Zugereiste, uns anregt, ja ermutigt mit dem Fragen und Hinterfragen nicht aufzuhören, das lässt einen auch nach der Lektüre nicht so schnell los.

Glückte ihm das im großen Stil, es wäre nach Jahren des Zanks ums Berliner Stadtschloss samt Humboldtforum viel gewonnen.