Dinslaken-Lohberg.. Am umstrittenen Spielort in der Kohlemischhalle der „Zeche Lohberg“ in Dinslaken zeigt Johan Simons neue Bilder für das Elend einer prekären Existenz.
„Der Mensch ist nicht geboren, um zu arbeiten!“, rief der Philosoph Byung-Chul Han aus und arbeitete sich in der Zentralwerkstatt der ehemaligen Zeche Lohberg eine Dreiviertelstunde an einem kritischen Blick darauf ab, was alle beschäftigt: die, die in Lohn und Brot stehen, genau wie die, die keine Stelle haben.
Mit Aristoteles erinnerte Byung-Chul Han daran, dass die Arbeit nicht mehr ist als eine Notwendigkeit. Und dass das Reich der Freiheit und das gute Leben erst jenseits der Arbeit beginnen – wie auch die gute Politik, die erst jenseits des Verwaltens und der Zwänge jenen beglückenden, erfüllenden Reiz entwickelt, für den die griechische Philosophie das Wort Eros geprägt hat. „Ich kann mir Angela Merkel und Wolfgang Schäuble schlecht als Erotiker der Politik vorstellen“, witzelte Byung-Chul Han, der die Gesellschaft bis hin zum Selbstverständnis jedes Einzelnen im Würgegriff des Finanzkapitals sah.
"Das provoziert"
Der Festspielrede wie auch der anschließenden Podiumsdiskussion fehlte zwar die begriffliche Schärfe, die zwischen Lohnarbeit und freier, erfüllter Tätigkeit hätte unterscheiden müssen. Aber beides war ein Signal: Die Ruhrtriennale, die hier eröffnet wurde, wendet sich nach den experimentellen Selbsterfahrungstrips, die der Komponist Heiner Goebbels als Intendant im Angebot hatte, wieder konzentriert der Gesellschaft und der Gegenwart zu.
Das provoziert schon der Ort der Eröffnung: Hundert Jahre lang förderte die 2005 geschlossene Zeche Lohberg Anthrazit-, Fett-, Mager- und Kokskohle; seit einem Jahrzehnt aber ist der Dinslakener Stadtteil geprägt von Arbeits- und Perspektivlosigkeit und wird bundesweit nur noch als Salafisten-Brutstätte wahrgenommen.
Dass Johan Simons den Start des Hochkultur-Festivals Ruhrtriennale hierher verlegt, liegt nicht nur an der reizvollen Unwirtlichkeit einer Stätte wie der gigantischen Kohlenmischhalle – es hat Symbolwert. Aber der behagt nicht jedem. Eyüp Yildiz, Vize-Bürgermeister von Dinslaken etwa, plädierte vehement dafür, dass Lohberg keine Hochkultur brauche, sondern Arbeitsplätze und eine Kunst, die jenes Vakuum füllt, in dem sonst der Salafismus leichtes Spiel hat.
Diese Kunst, sagte Yildiz, müsse die Sprache von Dieter Bohlen und Heidi Klum sprechen. Dass es auch anders gehen kann, zeigte Johan Simons’ Eröffnungs-Inszenierung „Accattone“. Im sehr freien Umgang mit dem Stoff des gleichnamigen Films von Pier Paolo Pasolini findet Simons auf der staubigen Geröllfläche der Kohlenmischhalle immer neue Bilder für das Elend einer prekären Existenz.
Von der Verherrlichung der Außenseiterposition, des radikalen Egoismus und der Verweigerung von Gesellschaftsfähigkeit, wie sie bei Pasolini noch zu spüren ist, bleibt nicht viel. Das Ensemble mit Sandra Hüller, Elsie de Brauw und Titelheld Steven Scharf als lässiger Großkotz allen voran bewegt sich fast im Zeitlupentempo durch das Auf und Ab des Verbrechens, der Verrohung, der zunehmenden Verzweiflung. Eine extrastarke Vorstellung legt Benny Claessens als Gangsterkönig hin, in dessen singend hoher Stimme die Bestialität auf dem Sprung zu sein scheint.
Bach als Trost
Stärker als bei Pasolini kommt die Musik von Johann Sebastian Bach als Kontrapunkt ins Spiel, als Fluchtpunkt der Würde. Das „Collegium Vocale Gent“ unter Philippe Herreweghe trotzt der widrigen Riesenhalle einen herausragenden, glasklaren Klang ab, der allein durch sein Da- und So-Sein die Möglichkeit des anderen, besseren Lebens bezeugt, auch und gerade jenseits seiner christlichen Erlösungseuphorie. Extrastarker Premierenbeifall für Sänger und Musiker, Schauspieler und Regieteam wurden fast ebenso vehement gefeiert.
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