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Als Rainald Goetz sich 1983 beim Bachmann-Wettbewerb mit dem Blut aus seiner angeritzten Stirn in die Annalen der deutschen Literatur einschrieb, hatte das eine fatale Wirkung: Es machte Goetz bekannter als alle Bachmannpreisträger vor und nach ihm – und verdeckte vollständig, dass Goetz’ Roman „Irre“ eines der Meisterwerke unter den deutschen Romandebüts der Nachkriegszeit war. Eine kenntnis- und einsichtsreiche Innensicht der deutschen Psychiatrie, die der Medizin und Geschichte parallel studierende Überflieger Goetz in der Praxis gewonnen hatte. Dabei notierte er schon damals: „Das einzige, was ich ernst meine, ist Schreiben. Alles andere nebenher.“ Aber auch: „Was muss ich tun, dass ich nicht auch so ein blöder Literaturblödel werde, der dumpf Kunst um Kunst hinschreibt“.

Von der Realität entfernt

Goetz ging es damals wie heute um eine intensivere Opposition der Kunst zur gesellschaftlichen ­Wirklichkeit – zu weit hatte sich die deutsche Literatur in seinen Augen von der Realität entfernt und sich selbst zu ernst genommen.

In den Folgejahren suchte Goetz sein Heil in verzweifelt anmutenden Experimenten, schrieb die Trilogie „Krieg“ über 200 Jahre Revolutionsgeschichte bis zur Studentenbewegung – um sie kurz darauf mit einem vierjährigen Aufführungsverbot zu versehen. Er entwickelte sich zum Berufsjugendlichen und Party-König unter den Literaten und wandte sich der Raver-Szene zu, weil er in deren Ekstasen die letzten Reservate des Glücks in einer durch und durch fremdbestimmten Gesellschaft sah. 1998 schrieb er mit dem Internet-Tagebuch „Abfall für alle“ das erste literarische Blog hierzulande.

Durch Thomas Middelhoff inspiriert

Aber vielleicht war es Goetz’ Rückkehr zur gesellschaftlichen Wirklichkeit in „Johann Holtrop“, dem ganz offensichtlich vom Lebensweg Thomas Middelhoffs inspirierten Roman über Aufstieg und Fall, Wohl und Wehe eines Managers, über einen Charakter als Kristallisationspunkt des entfesselten Kapitalismus, der nun die Akademie für Sprache und Dichtung bewogen hat, Rainald Goetz den diesjährigen Georg-Büchner-Preis zuzusprechen, der am 31. Oktober verliehen wird. Die bedeutendste deutsche Literatur-Auszeichnung, dotiert mit 50 000 Euro, würdigt den 61-Jährigen, weil er sich „mit einzigartiger Intensität zum Chronisten der Gegenwart und ihrer Kultur gemacht“ habe.