Gelsenkirchen. Das Pixelprojekt Ruhr als fotografisches Gedächtnis der Region wächst weiter. Bei einer Ausstellung im Wissenschaftspark Gelsenkirchen sind die Neuaufnahmen zu sehen.

Im Revier der Kohle- und Stahl-Dämmerung sind Millionen und Abermillionen von Euro vorhanden für die aufwendige Erhaltung von vollkommen maschinengerechten, menschenverachtenden, radikal rationalen Gebäuden und Geländen, die eigentlich nur auf Zeit errichtet waren. Industriekultur heißt das dann, und die verbreitete Begeisterung darüber erstickt jeden Zweifel daran, ob so verschiedene, ja gegensätzliche Dinge überhaupt in ein Wort passen.

Wie am Ende aber die Industrie eine ganze, lange gewachsene Lebenskultur von Menschen auffrisst, ist in Markus Matzels Fotoserie „Adieu, Bruckhausen“ zu sehen: Bagger schlagen ihre Zähne in Jugendstilfassaden, Frauen werfen ihre Gartenstühle vom Balkon, die Kneipe „Zur Industrie“ hat die Rollläden runtergelassen und die beiden Herren vom Türkischen Sportverein Bruckhausen 1920 gucken lieber weg, gewonnen haben andere. Bruckhausen, der Stadtteil, der zuletzt als die Bronx von Duisburg galt, aber auch einen legendären „Sheriff“ und andere umwerfend herzliche Menschen hervorbrachte, weicht einem Grüngürtel für das monströs große Thyssen-Krupp-Stahlwerk.

Reportage aus dem Friedensdorf

Solche Geschichten erzählen die Fotoserien im Pixelprojekt Ruhrgebiet, das sich seit 2003 Jahr um Jahr zum umfassenden Bild-Gedächtnis der Region entwickelt. 18 Serien von 19 Fotografen sind in diesem Jahr neu hinzugekommen, und Ausschnitte daraus sind derzeit im Gelsenkirchener Wissenschaftspark zu sehen. Kim Sperling zeigt einige der 8000 seit 1963 aus Südkorea eingewanderten Menschen (sämtlich mit Gesichtern, wie man sie früher beim Fotografen aufsetzte), Jakob Studnar die Kinder im Friedensdorf in Oberhausen, die leiden, lachen, spielen und vielleicht sogar glücklich sind unter lauter Kindern, denen die Kriege unserer Zeit allesamt ihre Grausamkeit ins Gesicht, auf den Körper, in die Seelen geschrieben haben. Bewegend sind diese Bilder durch ihre warme Präzision.

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Überhaupt sind es große Geschichten der kleinen Leute, die hier erzählt werden: Von „Doc Müller“, dem Arzt, der in der Dortmunder Nordstadt die Obdachlosen behandelt; vom Zirkus, der in einem aufgelassenen Autohaus Zuflucht suchte, was ihm dann die nächste Odyssee eintrug, ohne dass die Artisten, Arbeiter und Kinder von ihren Träumen abließen (Robert Freise: „Monti’s Dream“); von den selbstbewussten, hoffnungsprallen Typen, die Fatih Kurceren „Auf der Straße“ in all ihrem bunten Stolz abgelichtet hat, bis zu der vielschichtigen „Gesellschaft“ des Kamera-Routiniers André Gelpke, der in Zürich lebt und dem Pixelprojekt seine schwarzgrauweißen Reviermenschenbilder aus den frühen 80er-Jahren quasi vermacht hat. Von den Grauwerten leben, bei aller Farbigkeit, auch die Reportagen, die Daniel Kessen auf Flohmärkten am Essener Autokino und an der Gelsenkirchener Arena fotografiert hat: Balkan und Orient pur, eine Anderwelt im Zweistromland zwischen Emscher und Ruhr, Exotik vor der Haustüre, dubiose Ware im Nebel, Röhrenfernseher haufenweise.

Architektur und Zwischenräume

Überzeugen können auch die Architektur-Serien, besonders die Bilder vom Dortmunder Gesundheitshaus, dem Gerd Kittel die schönsten, elegantesten Seiten abgeschaut hat, die 60er-Jahre-Bauten zu bieten haben. Man erkennt sofort, dass diese Architektur eine überaus intensive Pflege braucht. Und dass Roland K. Berger zusammen mit Peter Lück seine Suche nach den skurrilsten Haus-Zwischenräumen des Ruhrgebiets fortsetzt, ist eine eigenwillige Liebeserklärung an diese Region, die so lange schon irgendwo dazwischen ist, dass sie sich längst daran gewöhnt hat, genau da zu leben.