Essen. . Versteckte Kamera, Pseudo-Dokus, Undercover-Recherchen: Wir leben in einer medial verunsicherten Republik, in der das Fake zum Fakt wird.

„Ausländer und Asylbewerber benutzen bitte nur die hinteren Sitzreihen“, stand auf dem Schild in einem Essener Bus. Dass die meisten deutschen Fahrgäste protestierten, den ausländischen empört beisprangen – auch das haben die Kameras des WDR festgehalten. Und wenn der Beitrag im August in einer Wissenssendung zu sehen sein wird, dann hören wir vielleicht auch diesen entsetzten Ausruf einer Frau: „Ist das jetzt hier versteckte Kamera, oder was?“

Ja – oder was? Die Aktion beunruhigt nicht nur, weil hier im Jahre 70 nach Ende des Holocaust mit der Idee von Rassentrennung gespielt wird, die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen erneut auf die Probe gestellt wird. Es ist vor allem die journalistische Form: das „Candid-Camera“-Prinzip, das mit gleichnamiger US-Serie in den 1940er-Jahren seinen Anfang nahm und hierzulande in erschöpfender Vielfalt ausgewalzt wurde, von Paola und Kurt Felix bis Harald Schmidt.

„Quotenbeschaffungskriminalität“

Diese Experimente, die der Gesellschaft auf die Spur kommen wollen, sie sind ja selbst Spiegel der Gesellschaft: einer medial verunsicherten Republik. Da werden Frauen in der U-Bahn angepöbelt, um die Reaktionen zu testen, Kamera läuft. Da werden Geldbörsen gut sichtbar gestohlen. Und zugleich, weniger sichtbar, die Grenzen zur Comedy immer weiter verwischt: Wenn auf Sat1 beim „R-Team“ Senioren Jugendliche veräppeln, ist das nur noch lustige Bloßstellung.

Auch interessant

„Quotenbeschaffungskriminalität“ hat TV-Journalist Friedrich Küppersbusch mal die vielen wirklichkeitsverbiegenden TV-Formate genannt. Tatsächlich drängt sich die Frage auf: Was sollen wir, dürfen wir noch glauben? Was ist noch echt? Der Varoufakis-Stinkefinger bei Jauch, der vielleicht von Jan Böhmermann gefälscht wurde (oder nicht) und der RTL-Reporter, der als Pegida-Demonstrant Interviews gab, sind nur Spitzen des Eisbergs. Heute dürfen wir hinter jeder Supermarkt-Kassiererin eine Mitarbeiterin vom Team Wallraff vermuten und können nicht mehr unterscheiden, welche der Gerichts-, Erziehungs- und Survival-Serien komplett durchchoreografiert sind. Wir leben in einem Land der versteckten Kamera, einer Republik des großen Fake.

Das "Krieg der Welten"-Prinzip

Das massenmediale Spiel mit der Wirklichkeit, es hat eine lange Tradition. 1938 verschreckte Orson Welles’ Hörspiel „Krieg der Welten“ die Radiohörer – sie glaubten tatsächlich, die Außerirdischen wären gelandet. In den 70er-Jahren erregte Drehbuchautor Wolfgang Menge in Deutschland die Gemüter: Sein Film „Das Millionenspiel“ um eine tödliche TV-Show nahm Neil Postmans Idee von einer sich zu Tode amüsierenden Gesellschaft vorweg; seiner Pseudo-Doku „Smog“ über ein hustendes Ruhrgebiet schenkten erstaunlich viele Glauben – und riefen panisch beim Sender an.

Heute scheinen allein die jüngeren Zuschauer das Misstrauen noch nicht gelernt zu haben: Einer Studie aus dem Jahr 2011 zufolge wissen knapp 80 Prozent der 6- bis 18-jährigen Fans des RTL-Formats „Familien im Brennpunkt“ nicht, dass es sich um erfundene Geschichten handelt.

Täuschende Rollenspiele

Natürlich: Viele journalistische Formate wären ohne einen Hauch Unwahrheit kaum zu realisieren. Noch jeder Restaurant-Tester bleibt anonym, allein schon, damit er nicht durch Extra-Nachtisch bestochen wird. Das Wallraffen gilt als seriöses Mittel, Missstände aufzudecken – wenngleich manche „Enthüllung“ aus der Kantinenküche arg aufgebauscht daherkommt. Auch der Selbsttest, der ja immer mit Verstellung einhergeht, ist eine alte Reportagetechnik, obgleich zurzeit egomanisch grassierend – ich, wie ich von Hartz IV lebe; ich, wie ich Vegetarier werde; ich, wie ich um die Welt reise.

Problematisch wird es, wenn die Rollenspiele die Wirklichkeit verändern. Aber wo beginnt die Täuschung? Wenn ich mir eine Burka überstreife, durch die Fußgängerzone laufe? Oder erst, wenn ich als radikale Muslima Flugblätter verteile?

Die ironische Provokation führt dazu, dass Fakt und Fiktion verschwimmt. Michael Moore oder Tuvia Tenenboom reisen als Enthüllungsreporter umher, befriedigen aber doch nur das Bedürfnis nach Krawall – und sind von Kunstfiguren wie Borat oder Horst Schlämmer kaum zu unterscheiden. Die „Zeit“ rechnet in ihrer aktuellen Ausgabe aus, dass längst mehr Menschen die satirische „heute show“ sehen als ihre seriösen Vorbilder „heute“, „Tagesschau“ und „Tagesthemen“. Tja.

Was bleibt, wenn nicht alle Journalisten Komiker werden wollen? Vielleicht täten wir gut daran, entschiedener der Spur der Wirklichkeit zu folgen. Halten wir es mit Reporterlegende Egon Erwin Kisch: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.“ Dann könnten wir bald vielleicht wieder in einen Bus steigen, ohne nach versteckten Kameras Ausschau halten zu müssen.