Essen. . Alles Elend der Welt und nur ein wenig Hoffnung: das – und noch viel mehr – thematisiert Merle Kröger in ihrem Buch “Havarie“. Entstanden ist ein Werk, das den Deutschen Krimipreis verdient hätte.

Die Welt und der Kriminalroman würden „von den Engländern beherrscht“, meinte der Krimikenner Brecht im Jahr 1938. Das war schon damals falsch, wie sich bald zeigte. Und heute? Nicht einmal Putin dürfte ernsthaft von der Weltherrschaft träumen. Aber der Krimi ist inzwischen eine, wenn nicht DIE Erzählform der globalisierten Welt. Und bringt uns damit, wie die täglichen Nachrichten, die Schrecken aller Erdteile ins Haus: heute den Drogenkrieg in Mexiko, morgen den Bombenanschlag auf ein Luxushotel in Nairobi – und die Einschläge rücken immer näher. „Das Mittelmeer füllt sich mit Toten wie ein Massengrab“, heißt es lakonisch in Merle Krögers „Havarie“.

Seefahrt und Schiffbruch gehören zu den ältesten Themen der Dichtung und werden seit zweieinhalbtausend Jahren recycelt. Der alte Homer bringt seinen Odysseus ja heim, der düstere Dante aber lässt ihn untergehen, fast wie Brecht später seine grölenden Seeleute. All das und vieles mehr – auch die „Titanic“ und die „Wilhelm Gustloff“ spuken vorbei – bildet einen zusätzlichen Echoraum für Krögers bemerkenswertes Buch.

Das beschränkt sich im Kern klugerweise auf eine begrenzte, aber vielschichtige Story: Ein amerikanisches Kreuzfahrtschiff mit 5000 Personen an Bord „kreuzt“ den Kurs eines Schlauchboots mit algerischen Flüchtlingen; dazwischen irrlichtert ein rostiges Containerschiff aus Irland unter russisch-ukrainischer (!) Führung. Ein junger Indonesier, fürs abendliche Entertainment auf dem Traumschiff zuständig, verschwindet spurlos und lässt eine kleine Inderin ganz trostlos zurück. Zwei gut betuchte ältere Damen aus Deutschland üben sich im Schwesternkrieg.

Einer der Bootsflüchtlinge ertrinkt, die spanischen Seenotretter tun, was sie können und hadern, weil es so wenig ist. Der Maschinist aus der Ukraine muss in den Krieg. Der skrupellose Securitychef der „Spirit of Europe“ (!) schickt einen blinden Passagier in den sicheren Tod; dessen syrischer Pass aber könnte einem verzweifelten Liebespaar eine neue, wenn auch nicht ganz legale Lebenschance bieten.

Kein Weltrettungspathos

Also: kein Massensterben, keine plakativen Anklagen, schon gar kein Weltrettungspathos. In einer verknappten Sprache, wie eine Ton-, Bild- und Gedankenaufzeichnung, werden hier Schicksale, Nationalitäten, Lebenswege, Wünsche und Ängste in schnellem Wechsel der Perspektiven über Kreuz geführt. Und an jeder Stelle ergeben sich historische Rückblicke und weltweite Durchblicke.

Man kann darüber streiten, ob unbedingt auch noch der Erste Weltkrieg oder die irischen „Troubles“ reinmussten. Aber alles in allem: Ja – so kann ein deutscher Krimi in der globalisierten Welt aussehen. Merle Kröger ist – wie Zoë Beck oder Uta-Maria Heim – eine Autorin der mittleren Generation, die neue Themen und Töne in ein Genre bringt, das in der schematischen Massenproduktion immer mehr zu ersticken droht. Für „Havarie“ hätte sie dieses Jahr den Deutschen Krimipreis verdient, meine ich. Wir werden sehen.