Mülheim. Fakten-Check auf der Bühne der Mülheimer Theatertage: Felicia Zellers „Wunsch und Wunder“ und Wolfram Lotz’ „Die lächerliche Finsternis“ spielen mit der Wirklichkeit.

Wie wirklich ist die (Theater-)Wirklichkeit? Ob und wie Fakten zur Fiktion werden können, das loten die ersten beiden Wettbewerbsbeiträge bei den Mülheimer Theatertagen aus – auf höchst unterschiedliche Weise.

Für ihr Auftragswerk am Saarländischen Staatstheater hat Felicia Zeller an der Wiege des modernen Menschen recherchiert: in einer Kinderwunschpraxis. „Wunsch und Wunder“ teilt uns ihre Rechercheergebnisse in boulevardesker Form mit. In ihrer Bühnenpraxis, von Wolf Gutjahr in einen Fototapetenwald voller Hintertürchen und Nebenräumen verwandelt, hat Dr. Flause (mit gehätscheltem „Baby“-Bauch: Andreas Anke) in den Anfängen der Reproduktionsmedizin gerne selbst mal Hand angelegt. Über 300 „Spenderkinder“ gehen auf sein Konto. Eines ist Katja von Teich (Nina Schopka). Sie will wissen, wer ihr genetischer Vater ist – und schleicht sich in die Praxis ein. Regisseur Marcus Lobbes verwandelt Zellers wortwitzige Vorlage in einen heiteren Schnellsprech-Reigen, der einem medizinischen Crashkurs gleichkommt und Fragen der Moral auf Zellhaufengröße minimiert. Damit verschenkt Zeller, die für „Kaspar Häuser Meer“ 2008 den „Stücke“-Publikumspreis bekam, eine dramatische Möglichkeit: die Wirklichkeit tüchtig abzuklopfen – und im Staub des Absurden ein Körnchen Wahrheit zu finden.

Eben dies macht, bis hin zum realen Hustenreiz beim Publikum, Wolfram Lotz’ Beitrag „Die lächerliche Finsternis“. Schon der Monolog eines Absolventen des Diplom-Studiengangs Piraterie (gefördert von der Studienstiftung des somalischen Volkes), der in Deutschland vor Gericht steht, stellt unsere Wahrnehmung der Welt auf die Probe. Später fahren Bundeswehrangehörige den Hindukusch hinauf, mitten in den afghanischen Dschungel. In Lotz’ Welt, die nichts mit unserer Fernsehwelt gemeinsam hat, ist der Hindukusch eben ein „dunkler, langsam fließender Strom“. Und im Herzen des Krieges kriegen die Soldaten nichts vom Krieg mit – „es gibt hier einfach kein Internet“.

Meisterliche Verfremdungseffekte

Am Wiener Akademietheater hat Dušan David Pařizek konsequent die Männerrollen mit Frauen besetzt: Frida-Lovisa Hamann, Dorothe Hartinger, Stefanie Reinsperger und Catrin Striebeck meistern militärische Posen ebenso wie (homo-)erotische Momente, sorgen selbst für Urwaldgetöse, suhlen sich im finsteren Schlamm. Und zerhäckseln in der Pause die Bretter, die die Welt bedeuten. Dabei pusten sie beiläufig Texte in die staubige Luft, die ein atemberaubendes Programm markieren: „Wie über etwas schreiben, das man nicht kennt? Oder geht es genau darum?“

Und auch, wenn Lotz diese Idee am Ende übersteigert bis zur buchstäblich gedachten Reise ins eigene Ich, in die Finsternis des eigenen Körpers: Die Verfremdungseffekte von Text und Ton beherrscht er meisterlich.

Das Zusammenspiel beider Abende zeigt einmal mehr die Stärke der Mülheimer Theatertage: Denn im Gegensatz werden die Herangehensweisen so recht offenkundig, wobei Lotz’ absurde fiktionale Faktenverdrehung eher im Gedächtnis bleibt, mehr zum Nachdenken anregt als Zellers muntere Fakten-Fiktion.