Recklinghausen. . „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ wurde bei der Ruhrfestspiel-Premiere begeistert gefeiert. Ein pausenloser Bilderrausch.
Die geschäftlichen Gleichmarschierer mit den Aktenköfferchen, der Mann mit der Leiter und das Mädchen mit dem Springseil, der Guantanamo-Häftling und die Frau im kleinen Roten mit den High Heels, der bitterlich weinende Kellner, die Omas mit dem Zwiebelporsche, der Samba-Transvestit, die beiden Zeitlupen-Postboten auf dem Rad, die Frau aus Böcklins „Toteninsel“ auf dem Boot, der böse Nikolaus unter Weihnachtsglöckchengebimmel, der Gliedvorzeiger und die andächtig starrende Dame im Leopardenfellmantel, die Verrückte und der Straßenkehrer, immer wieder Flugzeug-Besatzungen, das Hochzeitspaar, das viel Wind macht, immer mehr entlassene Büroangestellte mit Umzugskartons, der Zug der alten und Greisen hinter dem dunkelhäutigen Tanz-Paar in Rokoko-Kostümen und irgendwann auch der Mann mit Fotoapparat und schulterlangem Haar, der dem Peter Handke des Jahres 1992 so ähnlich sieht: Sie alle ziehen von rechts nach links oder umgekehrt über die Bühne, durchs Großstadtgetriebe.
Ein Gleichnis über das moderne Stadtleben
Handkes „Stunde, da wir nichts voneinander wussten“, 60 Seiten Regieanweisung für Straßen- und Platz-Szenen, ohne einen einzigen Dialog, ist schon eine Ausnahme-Erscheinung im Theater der Gegenwart – und seine ausgedehnte Inszenierung durch das estnische Regie-Duo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper am Thalia-Theater, die jetzt bei den Ruhrfestspielen zu sehen war, macht sie zu einem ausnehmend starken Bilderbogen, ja einem Gleichnis über das Leben in den Städten unserer Zeit.
Zweieinviertel pausenlose Stunden Handke mit klug dosierter Musik
In zweieinviertel pausenlosen Stunden, die nie zu lang werden, ziehen Alltag und Feste, Orgien und Schicksale an uns vorbei, es ist das Leben selbst, das da mal traurig, mal kurios, mal von der Gier getrieben und dann wieder zufrieden auf der Bühne abrollt, so scheint’s.
Und die Gesänge, die der im Publikum platzierte Chor anstimmt, scheinen eine mystische Überhöhung all dessen zu sein, eine weihevolle Feier des Banalen. Aber eigentlich heißt es, dass eben dieses scheinbar Gewöhnliche das Heiligste ist, was wir haben.
Man geht mit mehr Achtsamkeit durch den Tag nach diesem Stück, man sieht, dass die Bilder auf der Bühne (extrafein in eine neue Dimension gehoben von der feinen Musik, klug dosiert von Lars Wittershagen) keine Übertreibung waren, dass ihre Stilisierungen nur deutlicher erkennen lassen, was draußen in der Wirklichkeit der Fall ist.
Schade, sehr schade also, dass man sich nun nach Hamburg ins Thalia-Theater aufmachen muss, um diese großartige Inszenierung erleben zu können.