Mit dem Tod des Nobelpreisträgers endet auch der alte Traum der Intellektuellen, dass Dichter und Denker Einfluss auf die Politik nehmen könnten. Vorläufig

Als die deutsche Schriftsteller-Vereinigung PEN im Winter ihren 90. Geburtstag feierte, setzte sich Günter Grass einmal mehr an die Spitze einer Bewegung: Politischer müssten die Autoren werden, forderte er, mehr Einmischung wagen! Und die Politik, die müsse zugänglicher werden. Dass Juli Zeh in einem Brief an Kanzlerin Merkel Konsequenzen aus der NSA-Spähaffäre forderte, aber keine Antwort erhielt, nannte Grass einen Skandal: Wäre er Juli Zeh, er hätte vor dem Kanzleramt campiert!

Einmischung war Mode

Was bleibt, jetzt, da der letzte große Einmischer die Bühne verlassen hat? Mit Günter Grass endet – vorläufig – auch der alte Traum der Intellektuellen, dass Dichter und Denker Einfluss auf die Politik nehmen können. Grass suchte die Nähe zur Macht wie wohl kein anderer Dichter der Nachkriegszeit. Dabei war die politische Einmischung unter Schriftstellern, vornehmlich den eher links orientierten, durchaus mal Mode. Die Groß- und Vordenker der frühen Republik trafen sich in der „Gruppe 47“, der wichtigsten Interessenvertretung. Böll, Walser, Enzensberger, Johnson oder Andersch verstanden sich, mit unterschiedlicher Färbung, als politische Autoren. Im Milieu der SPD tummelten sich nicht nur linke Wortfechter wie Grass und Peter Rühmkorf, sondern auch Kabarettisten, Theaterleute, Popsänger oder Schauspieler. Intellektuelle umschwärmten Willy Brandt. Gerhard Schröder zeigte sich gern mit Kreativen, etwa mit dem Maler Immendorff.

Suchten linke Intellektuelle gern die Nähe zum Getriebe der Macht, war dies ihren konservativen Kollegen stets wesensfremd. Sie beobachten lieber aus der Distanz das eitle Tagesgeschäft des Feilschens und Schacherns um Volkes Wohlwollen und Stimme. Für Künstler, Dichter und Denker war die CDU nie eine Heimstätte. Umgekehrt hat die Union nie einen Hehl daraus gemacht, wenig von diesen zu halten, sieht man einmal von Helmut Kohls Besuchen bei Ernst Jünger ab – wobei sich Jünger niemals so für die CDU hätte vereinnahmen lassen, wie es Grass für die Sozialdemokraten tat. Auch dem konservativen Dramatiker Botho Strauß käme das wohl abwegig vor.

„Keine Experimente wagen“ war in den 50er-Jahren das Motto der CDU. Als Helmut Kohl 1982 die „geistig-moralische Wende“ ausrief, weckte das bei manch konservativem Denker Hoffnungen, doch bald entpuppte sich das Programm als Floskel. Selbst konservative Publizisten werfen der CDU intellektuelle Leere vor. Merkel will da nicht ausscheren, verfolgt seit Jahren eine Politik der kleinen Schritte. „Auf Sicht fahren“ ist eines ihrer Erfolgsrezepte. Dass in dieses politische Konzept intellektuelle Diskurse, Dichter-Debatten oder gar visionäre Politikentwürfe passen, kann man sich kaum vorstellen.

„Frau Merkel verkörpert einen Typus von Politiker, der keine Visionen mehr hat“ – so urteilt Juli Zeh über die Kanzlerin, der sie im Theaterstück „Mutti“ ein Denkmal setzte. Juli Zeh ist eine der wenigen Autoren im Land, die sich regelmäßig zu Wort melden: ob zur Spähaffäre oder zur (aus ihrer Sicht) drohenden Gesundheitsdiktatur. Sie sei „ihre eigene Gruppe 47“, heißt es in Porträts. Allein Ingo Schulze, der zuletzt für „demokratiekonforme Märkte“ warb, ist noch ein Garant für durchdachte Einmischung. Auf konservativer Seite hingegen fallen nur Krachschläger ins Ohr: Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff wettert gegen im Reagenzglas gezeugte „Halbwesen“; Katzenkrimi-Bestseller Akif Pirincci zeigt in „Deutschland von Sinnen“ sarrazineske Krallen.

Bedauern über „Sprachlosigkeit“

Was bleibt, ist eine Lücke. „Denken entsteht durch Sprache“, schrieb FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher 2011: „Indem Literatur sich in eine Parallelwelt zurückgezogen hat, hat sie auch die Evolution des politischen Denkens den Institutionen der Macht überlassen.“ Aber ist dies allein Schuld der Literatur? In einer Laudatio auf Robert Menasse, einen der unbequemen Literaten Österreichs, formulierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier ein großes Bedauern über die „Sprachlosigkeit“ zwischen Politik und Kunst und verortete den Grund beiderseits. So sei Kunst für die Politik oft kein „Gegenüber“ mehr, sondern nur noch „Rahmen und Ornament“. Wie wäre es, diesen Rahmen mit Bildern, Visionen zu füllen?