St. Georgen/Österreich. Neugieriger und Neuerer: Nikolaus Harnoncourt passt als Dirigent und Mensch bis heute in keine Schublade.17 Jahre langwar der 1929 in Berlin geborene Harnoncourt Cellist der Wiener Symphoniker. Er brach aus, suchte einen anderen Weg. Ein Gespräch zum 85. Geburtstag des Musikers.

Kurz vor unserem Gespräch saß Nikolaus Harnoncourt noch beim Schnitzen: „Ich mach’ das seit ich acht Jahre bin.“ „Die Natur in der Möbiusschleife“ nennt Harnoncourt seine kleine Skulptur. Vielleicht ein Gleichnis auf den Jubilar selbst: rätselhaft, konstant und doch immer neu. Am 6. Dezember feiert der Ausnahme-Dirigent seinen 85. Geburtstag. Ein Interview über Ziele, Mut und die Last des Alterns.

Sie schätzen Lob nicht besonders, Aber dass Sie die Welt aufgeführter Musik revolutioniert haben, darf man sagen. War verbessern und verändern das Gleiche für Sie?

Nikolaus Harnoncourt: Na ja, verbessern? Was ich vorfinde, das beurteile ich nicht. Aber ich will es auf keinen Fall so machen. Jede Kunst ist für eine ganz bestimmte Wirkung geschaffen. In dem Moment, wo diese Wirkung, die bei großer Kunst ja ein Schock ist, zum Besitz wird, wenn es sich also „durchsetzt“, hat es nichts mehr zu sagen.

Wie schade um das Erreichte!

Harnoncourt: Ja, mein Gott, „schade“, aber es ist so. Die Kunst verlangt Neues.

Meinen Sie neue Werke?

Harnoncourt: Nein, ich meine, einen Bach oder Beethoven in jedem Konzert wie eine Uraufführung zu behandeln. Ich erarbeite sie, als hätte ich sie nie vorher gehört – sofern das möglich ist. Ich lasse sehr viel Abstand. Wenn ich eine Sinfonie dirigiert habe, versuche ich, sie so lange wie möglich nicht mehr anzufassen.

Sie sind nie angstfrei zur Schule gegangen, weil Sie grundsätzlich nicht gelernt haben...

Harnoncourt: Stimmt, das hat mir einfach zuviel schöne Zeit gestohlen.

Als Dirigent sind Sie dagegen berühmt für akribische Vorbereitung. Die ideale Aufführung bleibt dennoch eine Vision – quält einen das?

Harnoncourt: Schwer zu sagen, schwer. Irgendwann weiß man das ja, was Sie beschreiben. Wenn diese hohen Ziele erreichbar wären, da würden lauter so Mallorca-Menschen herauskommen. Für mich ist es menschenunmöglich.

Ein Grund aufzuhören?

Harnoncourt: Im Gegenteil. Wenn ich ein Ziel erreiche, ist es für mich ein Zeichen, dass es kein Ziel war – oder falsch gesetzt.

Dass Sie so eigene Wege gegangen sind, ist nicht erst ein Zug des erwachsenen Harnoncourt. „Wenn auch alle, ich nicht“ haben Sie sich als Kind erdacht...

Harnoncourt: Ja, mit etwa acht - und nicht gewusst, dass es so ähnlich der Petrus in der Passion sagt. Ich fand den Satz gar nicht so besonders. Für mich war immer klar, das man es nicht so macht wie die anderen. Ich hab das auch nie als mutig empfunden. Ich kann nicht etwas für mich Selbstverständliches als mutig bezeichnen. Auch nicht am Ende des Krieges. Ich hätte mich ganz bestimmt 1945, wenn ich einberufen worden wäre, was ja knapp bevorstand, erschießen lassen.

Sich erschießen lassen?

Harnoncourt: Ja, ich bin so weit gegangen, dass ich selbst Notwehr als Grund, andere zu töten, abgelehnt habe: „Wenn ich mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester bedroht werde, werde ich mich nicht wehren. Dann lasse ich meine Mutter, meine Schwester und mich selber abschlachten.“ Da war ich 15. Ich habe es mit meinem Vater besprochen, der ein mutiger Mann war. Er fand meine Einstellung menschenunwürdig. Er hat mich unbedingt umdrehen wollen. Ich habe das ausgehalten. Ich war überzeugt, das ich für mich recht hatte.

Sie hatten am Mozarteum lange eine Professur für „Aufführungspraxis“. Gibt es einen zentralen Satz, den Sie Ihren Studenten mitgegeben haben?

Harnoncourt: An allem zweifeln und immer noch fragen!

Sie mögen kein „Maestro“ sein...

Harnoncourt: Nicht nur ich. Das war auch früher nicht üblich. Karajan hätte sich nicht Maestro nennen lassen, das „von“ war ihm wichtig. Karl Böhm musste „Dr. Böhm“ genannt werden. Als ich mal in Italien beim Friseur war, hab’ ich mitbekommen, wie alle zum Haarschneider „Maestro“ sagten. Das fand ich lustig.

Sie reden Klartext über das Altern, nennen es „beschissen“, dass man beim Wandern keine Steilwände mehr nehmen kann und einem Dinge plötzlich aus der Hand fallen.

Harnoncourt: Bis jetzt will ich dankbar sein. Aber ich wache jeden Morgen auf und frage mich: Hält es noch? Ich bin vergesslicher als früher – zum Glück weiß ich das. Und ich weiß, dass das normal ist. Aber: Alles, was unterhalb von den Schultern ist, ist nicht mehr gut.

Stimmt der Satz „Altwerden ist nichts für Feiglinge“?

Harnoncourt: Ja, schon. Aber, es kann sich ja nicht jeder umbringen (lacht).

Wagen Sie einen Ausblick auf das Publikum der Zukunft, auf die Bereitschaft zuzuhören?

Harnoncourt: Ich sehe eine schlechte Zukunft. Die aktuellen Erziehungssysteme der westlichen Welt sind getrimmt auf Funktionieren: möglichst schnell in den Arbeitsprozess eingliederbar zu sein und Geld zu machen. Diese „Brauchbarkeits“-Ideologie der Finanzwirtschaft züchtet Ameisen. Mir sträuben sich die Haare, wenn ich „Lehrplan“ höre: da geht es um ganz kleine Kinder – und die ganze Sorge der Eltern und der ganzen Gesellschaft gilt ihrer Karriere. Das ist eine Katastrophe, verheerend. Ich fürchte sogar: Sie ist unumkehrbar.