Essen. Die Gefährdung von nebenan, packend und gar nicht Schwarz-Weiß: „Der Reichsbürger“ von Annalena und Konstantin Küspert im Essener Schauspiel.
Lange wurden sie kaum wahr- oder gar ernst genommen – weder von den Behörden noch von der Öffentlichkeit. Was angesichts ihrer Zahl wenig überrascht. 3200 „Reichsbürger“ sind in NRW registriert; bei einer Bevölkerung von 18 Millionen sind das 0,018 Prozent. Bundesweit liegt die Quote bei 0,023 Prozent. Warum gefährden sie die Demokratie, das Staatswesen?
Wer sind diese Menschen überhaupt, die die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik verneinen und dem Grundgesetz den Rang einer Verfassung abstreiten? Die an den Fortbestand des Deutschen Reiches und an die Haager Landfriedensordnung von 1918 glauben und auf eigenem Grund und Boden souveräne Kleinstaaten ausrufen?
Den Reichsbürgern die Rote Karte der Lächerlichkeit zeigen
Sind sie weltfremde Spinner, verbohrte Verschwörungsfanatiker, narzisstische Exzentriker, gewaltbereite Radikale? Wie bequem wäre es doch, ihnen einfach die Rote Karte der Lächerlichkeit zu zeigen und sie so aus dem Spiel, aus dem Diskurs zu nehmen.
In ihrem kontrovers diskutierten Bühnentext „Der Reichsbürger“, der fraglos zu den herausragenden neuen Stücken des Jahres gehört, gehen Annalena und Konstantin Küspert diesen probaten Weg eben nicht. Inspiration für ihren Protagonisten, den Vermessungsingenieur Wilhelm, waren viele „echte“ Reichsbürger, die auf YouTube und anderen Websites ihre Sicht auf die Bundesrepublik verbreiten.
Stefan Diekmann bewältigt das Textkonvolut überragend
Das Textkonvolut für einen Schauspieler, das Stefan Diekmann in der „Box“ des Grillo-Theaters 90 kurze Minuten lang überragend bewältigt, zieht gleichsam die Quersumme aller Stimmen. Das Verstörende: Dieser Wilhelm, daran lässt auch Thomas Krupas subtile, einfallsreiche Inszenierung keinen Zweifel, ist weder Blödmann noch Demagoge. Er ist seriös, nachdenklich, und er wirkt geradezu sympathisch, wenn er, sachlich-ruhig und ohne missionarischen Eifer, seine Weltsicht mit Argumenten stützt, die schlüssig wirken und die der unvorbereitete Zuschauer so schnell gar nicht widerlegen kann.
Wenn es um Waffenfreiheit, um die Verteidigung des sogenannten eigenen Hoheitsgebietes geht, ist es mit Blick auf die in den USA formierten unabhängigen Milizen noch leicht, Stellung zu beziehen. Doch der Hinweis auf Selbstversorgung in freier Gemeinschaft rührt nicht nur manch altes Hippie-Herz. Warum Krankenhäuser Gewinn machen müssen, fragen nicht nur Reichsbürger. Rassistische oder antisemitische Forderungen sind natürlich unannehmbar, doch Kritik an Turbokapitalismus oder dubiosem Gebaren der Finanzwelt wird bei der Linken kaum anders formuliert.
Zum Zuschauer zurückgespielt
Es ist dieser irritierende Wechsel zwischen rechten und liberalen bis linken Positionen, der den Zuschauer immer wieder auf sich zurückwirft. Was macht den „Reichsbürger“ so unheimlich, so gefährlich? Die Autoren geben bewusst keine eindeutige Antwort. Die muss jeder für sich finden. Das Publikum wollte Stefan Diekmann nach seiner Glanzleistung gar nicht mehr von der Bühne entlassen.
Nächste Termine: 24.9. (ausverkauft), 3. und 31. Oktober. Karten (17€) unter Tel. 0201-8122200.