Essen. Ein neues Buch erzählt die Geschichte des Reviers auf ganz andere Art. Das Ruhrgebiet: Eigentlich müsste es „Emschergebiet“ heißen.
Mehr als vier Jahre lang wühlten die Wirtschaftshistorikerin Prof. Dr. Eva-Maria Roelevink und ihr Kollege Dr. Lutz Budrass in den Archiven von Unternehmen, Städten, des Landes NRW und der Emschergenossenschaft. Was sie zutage förderten, ist erstaunlich, ja: geradezu bahnbrechend. Denn die Ergebnisse der beiden (als Open Access übrigens in voller Länge hier kostenlos verfügbar) ermöglichen einen ganz neuen Blick auf die Geschichte nicht nur der Emschergenossenschaft, die den Forschungsauftrag erteilt hatte, sondern auf die Historie des Ruhrgebietes insgesamt. „Die Macht der Entwässerung - Die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“ ist nach „Vom Industriefluss zum blaugrünen Leben - 125 Jahre Emschergenossenschaft“ die zweite Publikation, die im Zuge des Jubiläums veröffentlicht wurde.
Nicht die A 40, sondern die Emscher ist der „Sozialäquator“
Doch der Reihe nach. Schon im Namen der Region schlummert nach Überzeugung der beiden Wissenschaftler das erste Missverständnis: „Es ist falsch, wenn wir vom Ruhrgebiet sprechen.“ Und auch nicht die oft bemühte A 40 ist der „Sozialäquator“, der das Revier in einen dreckigen, proletarischen Norden und einen reichen Süden teilen soll: Vielmehr ist es die gute alte Emscher. Und so wäre der Name „Emschergebiet“ eigentlich ein adäquates Etikett für unsere Region. Warum das so ist, erläutern sie auf 406 Seiten kundig, kritisch und keineswegs trocken, sondern spannend und in einer erstaunlich unterhaltsamen Sprache. (Kostprobe: „Einmal hereingerutscht in dieses höchst unappetitliche Nass und man kam nicht wieder raus.“)

Die Leitfrage lautete: Warum brauchte es überhaupt eine Emschergenossenschaft (die ja am 14. Dezember 1899 im Bochumer Ständehaus gegründet und am 14. Juli 1904 mit der Unterzeichnung des „Emscher-Gesetzes“ durch Kaiser Wilhelm II. rechtlich legitimiert wurde)? Und was hatte sie mit der „Erfindung“ des Ruhrgebiets zu tun? Eine ganze Menge, wie Roelevink und Budrass befinden und belegen. Sie nähern sich dem Thema aus verschiedenen interessanten Blickwinkeln an. Und dies führt, wie Budrass betonte, nicht zu einer lupenreinen Jubelschrift, sondern zu einer sehr differenzierten historischen Aufarbeitung.
Giftige Phenole wurden zum lukrativen Geschäft
Da geht es etwa um Seuchen wie Typhus, Ruhr und Malaria, aber auch um die nicht minder bedrohliche Gefahr durch Parasiten - vor allem die Hakenwurmkrankheit (Ancylotomyasis), die vielfach den ungeliebten polnischen Einwanderern angelastet wurde. („Die Rassenhygiene hob ihr hässliches Haupt“, heißt es im Buch wörtlich). Da geht es um die technische Leistung der Wasserbauingenieure, um die leidigen Abwassergebühren, aber auch um die drückende Phenolfrage (und wie es die Emschergenossenschaft schaffte, nicht nur Reinigungsanlagen zu etablieren, sondern aus den extrahierten hochgiftigen Substanzen - als Rohstoff für Desinfektionsmittel, Kunstharz oder Sprengstoff - sogar noch ein lukratives Geschäft zu machen). Nicht zuletzt beleuchten die Autoren aber auch das rechtliche und organisatorische Fundament der „Genossenschaft“, die sie treffender als „Bad Bank“ bezeichnen. Analog zum Geldinstitut, das toxische Papiere aufnimmt, hatte die Emschergenossenschaft jedoch ganz realen Dreck zu entsorgen. Profiteure waren vor allem die großen Städte im Süden der Region - Dortmund, Bochum, Essen, Duisburg und zahlreiche Unternehmen.

Paetzel: „Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen“
So wurde die Ruhr sauber und stand später Pate für den Namen der Region, während die Emscher für deren Industrieabwässer „geopfert“ wurde - eine durchaus kalkulierte Entscheidung. „Wir sehen die Erkenntnisse aus der Publikation als Auftrag, mehr denn je die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen. Der Emscher-Umbau war der erste Schritt – die Basis – für diesen Wandel. Wir betrachten es als unsere Pflicht, den Norden des Ruhrgebietes sozial und ökologisch wiederaufzuwerten, sodass es zukünftig keinen Nord-Süd-Unterschied mehr geben wird – weder durch die A40 noch durch die Emscher“, sagt Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft.

Obenaus: „Offene Schmutzwasserläufe waren alternativlos“
Die wissenschaftlich fundierte Rückschau auf die Vergangenheit zeigt aus Sicht des Auftraggebers, dass es sich lohnt, die eigene Geschichte auch kritisch zu hinterfragen. So interessant und überraschend es aus heutiger Perspektive erscheint, warum die Emschergenossenschaft in genau dieser Form entstanden ist – eines bleibt dabei dennoch unverändert: Die technische Ausgangslage für die Regulierung der Emscher und ihrer Nebenläufe war mit der Abwassermisere infolge der Industrialisierung und des Bergbaus – und vor allem nach der Entscheidung zur Gründung der Emschergenossenschaft – unumstritten.

„Mit der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts stiegen die Bevölkerungszahl und die anfallenden Abwassermengen rasant an. Wegen des Bergbaus konnten keine unterirdischen Kanäle gebaut werden, die Emscher-Gewässer wurden als Kloaken gebraucht und missbraucht. Die Folge waren Überschwemmungen mit ungereinigten Abwässern. Der technische Ausbau der Emscher-Gewässer zu offenen Schmutzwasserläufen war daher alternativlos“, sagt Dr. Frank Obenaus, Technischer Vorstand der Emschergenossenschaft.

Doch das, zum Glück, ist bekanntlich seit einigen Jahren Geschichte. Seit 2021 ist das Generationenprojekt Emscher-Umbau vollzogen, das einen gewaltigen technischen und organisatorischen Kraftakt erforderte. Mit weitreichenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen. Ein Beispiel für ein visionäres Infrastrukturprojekt von europäischer Relevanz. Was die „Macht der Entwässerung“ nicht alles bewirken kann.
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Historische Aufarbeitung
„Die Macht der Entwässerung - Die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“: So heißt die historische Aufarbeitung, die mit unzähligen Quellen belegt und mit einem umfangreichen Register und Literaturverzeichnis ausgestattet ist. Sie zeigt, dass man die Emschergenossenschaft als eigentliche Begründerin des Ruhrgebiets begreifen kann - und dass dieses seinen Namen eigentlich zu Unrecht trägt.
Lutz Budrass, Eva-Maria Roelevink: „Die Macht der Entwässerung - Die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“. 406 Seiten (Hardcover), erschienen im Verlag transcript, 65 €. Hier auch kostenlos als pdf-Download im Open Access.
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