Essen. Ein neuer Bildband über die Emschergenossenschaft und die Emscher erzählt die Geschichte einer wundersamen Wandlung: „Vom Industriefluss zum blaugrünen Leben“.
Ständig wachsende Abwassermengen. Überschwemmungen, die durch Bergsenkungen noch forciert wurden. Seuchengefahr. Ende des 19. Jahrhunderts stand das Ruhrgebiet, wie man es hier in typisch direkter Art sagen würde, kurz vor dem Absaufen. Und zwar in einer schmutzigen Brühe. Krankheitserreger, die aus dem häuslichen Abwasser stammten, lösten wiederholt Epidemien aus, die sich in den 1890er-Jahren häuften: Ruhr, Typhus, Cholera und sogar Malaria. Tausende erkrankten, Hunderte starben, so beschreibt es das von Prof. Dr. Uli Paetzel (Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft) und Dietmar Bleidick herausgegebene Buch.
Die Geburtsstunde der Emschergenossenschaft
Angesichts dieser katastrophalen Situation war eine konzertierte Aktion unter Beteiligung von Kommunen und Unternehmen notwendig. Neue Wege mussten beschritten werden, heißt es in dem 316 Seiten starken und üppig illustrierten Werk „Vom Industriefluss zum blaugrünen Leben“ weiter, denn alle anderen Versuche hatte sich als wirkungslos erwiesen. Und so trafen sich am 14. Dezember 1899 auf Einladung des Arnsberger Regierungspräsidenten Wilhelm Winzer im Bochumer Ständehaus führende Vertreter von Kreisen und Städten des Ruhrgebiets mit Vorständen großer Bergbaugesellschaften. Die Versammlung markierte auch einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik, denn im Normalfall hatten sich die Beteiligten nicht viel zu sagen: „Kirchturmdenken“ verhinderte überregionale Lösungen.

Das musste sich nun ändern. Es sollte angesichts zahlreicher offener Fragen allerdings noch einige Jahre dauern. Am 14. Juli 1904 folgte mit der Unterzeichnung des „Emscher-Gesetzes“ durch Kaiser Wilhelm II. die rechtliche Legitimation. In den folgenden Jahren entstand erstmals in Deutschland ein durchdachtes wasserwirtschaftliches Konzept. Ein Wendepunkt, um nicht zu sagen: Die Geburtsstunde preußischer Umweltpolitik.
Vom dreckigsten Fluss Deutschlands zur blaugrünen Oase
Das Buch beschreibt minutiös, aber unterhaltsam die vielen kleinen und großen Schritte, die damit verbunden waren. Die (mehrfache) Verlegung der Emschermündung. Den Bau eines Systems von Klärwerken. Mit dem ersten Emscher-Umbau wurde aus dem Fluss ein begradigter, offener Abwasserkanal. Nicht schön, aber unumgänglich. Dann, ermöglicht erst durch die Nordwanderung des Bergbaus, der zweite Umbau der Emscher ab den 1990er-Jahren: flankiert durch den unterirdischen Abwasserkanal Emscher, durch vier moderne Großkläranlagen und die Renaturierung der Oberflächen-Gewässer. Welch ein Wandel: vom dreckigsten Fluss Deutschlands zur blaugrünen Oase.

Renaturierung und Naturschutz im Fluss
Im Dezember 2021 war die Abwasserfreiheit erreicht: Es bedeutete nicht weniger als die Bewältigung einer Jahrhundertaufgabe. Am 1. September 2022 kam Bundeskanzler Olaf Scholz zum offiziellen Abschluss des Generationenprojekts. Mit NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach, Uli Paetzel und Frank Dudda, OB von Herne und Ratsvorsitzender der Emschergenossenschaft, pflanzte er an der renaturierten Emscher Weinreben. Eine Aktion mit starker Symbolkraft.

Scholz: „Eines der innovativsten Infrastrukturvorhaben Europas“
Scholz‘ Rede vom damaligen Festakt ist im Buch abgedruckt. Ein Auszug: „Meine Damen und Herren, heute stehen wir am Wasserkreuz Castrop-Rauxel an der hier bereits vollständig renaturierten Emscher und erleben, was noch vor drei Jahrzehnten völlig unmöglich schien: Heute fließt das Wasser der Emscher wieder glasklar und sauber. Heute geht von der Emscher kein fauliger Geruch mehr aus. Heute bedeutet es auch keinen sozialen Makel mehr, wenn jemand in einem Haus am Ufer der Emscher lebt – ganz im Gegenteil. Das alles ist das Ergebnis des erfolgreichen Emscher-Umbaus. Dabei ist dieser Umbau nicht nur das weltweit größte Renaturierungsprojekt mitten in Deutschlands größtem Ballungsraum, sondern er ist auch eines der größten und innovativsten Infrastrukturvorhaben in Europa überhaupt.“

Dies und viel mehr zeichnet die Publikation „Vom Industriefluss zum blaugrünen Leben“ anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Emschergenossenschaft in einem opulent bebilderten Überblickstext seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach. Die zahlreichen Herausforderungen und technischen Lösungen werden im Zeitverlauf verständlich vermittelt und in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen eingebunden.

Umfassende Bildstrecken zeigen das Emschergebiet von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein und verdeutlichen durch die Kombination von historischen und aktuellen Aufnahmen den Wandel der Flusslandschaft. Die Gliederung orientiert sich dabei an den Anrainerkommunen, um so die lokalen Entwicklungen in den Vordergrund zu stellen und auf die jeweiligen Besonderheiten in den einzelnen Gemeinden und Städte hinzuweisen.

Weitere Elemente sind ein Beitrag von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst aus der Festschrift zum 125-Jährigen, ein Interview mit dem Chef der Emschergenossenschaft, Professor Dr. Uli Paetzel, dem Ratsvorsitzenden Dr. Frank Dudda und Dr. Frank Obenaus (Vorstandsmitglied Wassermanagement und Technik) sowie ein Zeitstrahl „125 Jahre im Überblick“. Nicht ausgespart wird die Rolle der Emschergenossenschaft im Nationalsozialismus, welcher unter dem Titel „Zwischen Zwang und willfähriger Fügung“ ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Die Emscher-Kommunen von der Quelle bis zur Mündung, von Holzwickede bis Duisburg, Dinslaken und Voerde, werden in jeweils eigenen Kapiteln vorgestellt.
Hunderte von Bildern illustrieren den Fluss im Wandel der Zeit
Stärkstes Pfund des Buchs bleiben aber die Bilder: Hunderte von Fotos, vom 19. Jahrhundert bis heute, von der Quelle bis zur Mündung, illustrieren den Fluss im Wandel der Zeit. Sie zeigen das Leben, das sich entlang seiner Ufer regt. Und das dank der Renaturierung so stark an Qualität gewonnen hat. Oder wie es NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in seinem Beitrag formuliert: „Wer heute mit dem Fahrrad die Emscher entlangfährt, wird kaum glauben, dass hier einst die stinkenden Abwässer des gesamten Ruhrgebiets flossen. In den kommenden Jahren wird die Emscher nun auf ihrer gesamten Länge wieder zu einem lebendigen und ökologisch funktionierenden Gewässer. Ein Fluss, der Lebensqualität für die Menschen in der Region und Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten bietet. Was für ein Gewinn!“
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Der Bildband
„Vom industriellen zum blaugrünen Leben - 125 Jahre Emschergenossenschaft“: So heißt das mit historischen und aktuellen Fotos reich illustrierte Buch zum Jubiläum. Es erzählt die spannende Geschichte der Emschergenossenschaft, die unsere Region bis heute nachhaltig prägt.
Dietmar Bleidick, Uli Paetzel: Vom Industriefluss zum blaugrünen Leben. 316 Seiten (Hardcover), erschienen im Verlag Kettler, 42 €
Weitere Infos:
https://www.verlag-kettler.de/de/buecher/125-jahre-emschergenossenschaft/