Unna..
Die Situation „absurd“ zu nennen, ist noch völlig untertrieben. Wenn jemand im Kreis Unna einen Termin beim Psychotherapeuten braucht – sei es, weil er unter Depressionen leidet, weil er Burn-out-Symptome (seelische Erschöpfung) aufweist oder weil er gar suizidgefährdet ist – muss er oft Monate lang warten.
Allein auf ein Erstgespräch muss man mindestens ein halbes Jahr warten. Selbst Wartezeiten von eineinhalb Jahren sind ganz normal. Dabei gilt der Kreis Unna offiziell als deutlich überversorgt mit Psychotherapeuten.
70 Therapeuten für 410 000 Einwohner
Das Dilemma: Die Bedarfsplanung, die regelt, wie viele Ärzte sich in einem bestimmten Bezirk niederlassen dürfen, orientiert sich an Zahlen aus den 90er Jahren. Damals wurde an einem Stichtag erfasst, wie viele Ärzte beziehungsweise Psychotherapeuten auf wie viele Einwohner kommen. Dieser Ist-Zustand wurde als Soll-Zustand festgelegt – und gilt noch heute.
Derzeit gibt es im Kreis laut Psychotherapeutenkammer NRW etwa 70 Psychotherapeuten – zuständig für 410 000 Einwohner. Das heißt, auf einen Therapeuten kommen knapp 6 000 Menschen. Trotzdem gilt der Kreis Unna als überversorgt. 148,3 Prozent beträgt die momentane Versorgung laut Bedarfsplanung – 48 Therapeuten wären laut Gesetzgeber demnach ausreichend.
Mit der Realität hat diese angebliche Überversorgung rein gar nichts zu tun. „Ich habe schon vor längerer Zeit einen Aufnahmestopp eingeführt“, sagt etwa die Psychotherapeutin Konstanze Wortmann. Die Wartezeit auf einen Termin in ihrer Praxis betrug über ein Jahr.
Bei den Kollegen sieht es nicht anders aus. Eine willkürliche Stichprobe: Therapeut Werner Höhn: sechs Monate Wartezeit – mindestens. Therapeutin Silvia Pörschke: acht bis zwölf Monate Wartezeit. Therapeut Ludger Rosengarten: Warteliste im Sommer eingestellt. Wartezeit damals: 18 Monate.
Dabei ist das Potenzial vorhanden: Ein Therapeut im Kreis beantragt seit zehn Jahren einen festen Praxissitz. Sein Gesuch wird immer wieder abgelehnt. Schuld ist die Bedarfsplanung.
Wut, Verständnislosigkeit und Resignation sind die Folge. „Sechs, sieben Leute rufen pro Tag hier in der Praxis an“, sagt auch Silvia Pörschke. „Sie sind verzweifelt, sie erzählen ihre Leidensgeschichte, sind völlig am Ende. Und ich muss wieder und wieder sagen: ‘Es tut mir so leid, aber einen Termin gibt’s erst in drei Monaten. Halten Sie durch.’ – Das ist ziemlich frustrierend.“
Im Extremfall kann es noch schlimmer kommen. Ein Therapeut aus dem Kreis Unna, der anonym bleiben möchte, berichtet, aus seinem Bekanntenkreis habe es eine Anfrage gegeben, ob er noch einen Therapieplatz für einen psychisch kranken Jugendlichen frei habe. Leider nein, habe der Therapeut entgegnet, erst wieder in ein paar Monaten. In dieser Wartezeit nahm sich der Jugendliche das Leben.
„Psychisch kranke Menschen werden in diesem System ganz eindeutig schlechter behandelt“, stellt Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, fest. Dabei zeigt nahezu jede aktuelle Studie, dass die Anzahl der psychisch Erkrankten drastisch zunimmt. „Das System ist einfach krank“, sagt Psychotherapeut Ludger Rosengarten. „Kränker noch als jeder Patient.“