Herten.. Von den Mitschülern verspottet und gedemütigt: Für Mobbing-Opfer wird der Schulbesuch zum Alptraum. Doch kaum ein Jugendlicher traut sich, offen über das Problem zu reden. Die FDP fordert ein Aktionsprogramm gegen Mobbing.

Sie wurde krankenhausreif geschlagen, gedemütigt und beschimpft. Anderthalb Jahre ging Sylvia Hamacher in ihrer alten Schule durch die Hölle. Die heute 18-Jährige ist ein ehemaliges Mobbing-Opfer.

Doch im Gegensatz zu vielen anderen, denen das gleiche Schicksal widerfahren ist, schweigt sie nicht. Die junge Frau aus Herten hat ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben – in der Hoffnung, die Problematik einer breiteren Öffentlichkeit mehr zugänglich zu machen. Mit der Unterstützung durch die Landtagsfraktion der FDP präsentiert die Schülerin seit einigen Monaten ihren Erfahrungsbericht einem breitem Publikum - mit großem Erfolg.

„Nach jeder Lesung und jeder Buchpräsentation kommen viele, viele Menschen auf mich zu und sagen ‚Mir ist das Gleiche passiert’. Doch kaum einer traut sich, darüber öffentlich zu reden“, sagt die Schülerin aus Herten. Warum das so ist, erklärt sie sich so: „Wenn du gemobbt wirst, dann fühlst du dich, als ob du selbst schuld bist und als ob das nur dir passiert.“

Keine genauen Zahlen, aber eine vermutlich hohe Dunkelziffer

Genaue Zahlen, wie viele Schüler von Mobbing betroffen sind, gibt es nicht. „Jedoch ist bei kaum einem Thema die Dunkelziffer so hoch“, ist sich Meinrad Kamps, Schulpsychologe aus Essen, sicher. „Viele Schüler schämen sich, dass sie nicht selber damit fertig werden und erzählen nicht oder zu spät davon.“

Das Thema Mobbing wird seit Jahren immer wieder aufgegriffen, doch wirklich sinnvolle Ansätze zur Bekämpfung von Mobbing durch die Politik gebe es nicht, meint Ralf Witzel, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Landtagsfraktion. „Das Problem wird viel zu oft unterschätzt“, sagt er. Deswegen hat die FDP eine Kleine Anfrage an die Landesregierung gestellt. Darin fordert sie ein Aktionsprogramm gegen Mobbing. Das momentane Netz an Hilfe für Mobbingopfer bezeichnet die FDP in ihrer Anfrage als „lückenhaft“ und nennt als Beweis die Erfahrungen von Sylvia Hamacher. Nur eine gezielte Aufklärung könne vor „weiteren unzähligen Mobbingopfern an nordrhein-westfälischen Schulen“ schützen.

Die Landesregierung will die Idee jedoch nicht aufgreifen, sondern setzt vor allem auf die Eigeninitiative der Pädagogen. „Es liegt bei den Schulen, inwieweit sie die ihnen angebotene Hilfe des Landes annehmen“, so ein Sprecher des Schulministeriums. Da es „keine verlässlichen Schätzungen“ gebe, geht das Schulministerium zudem nicht davon aus, dass es „unzählige weitere“ Mobbingopfer gebe. Stattdessen sei es „wünschenswert, dass Mobbing dort öffentlich gemacht und bearbeitet wird, wo es aufgetreten ist“, so die Antwort auf die FDP-Anfrage.

Kritik am Verhalten der Lehrer

Sylvia Hamacher kritisiert in ihrem Buch vor allem das Verhalten ihrer Lehrer und der Schulleitung, die, ihrer Einschätzung nach, „oft selbst so hilflos waren“. Die Schulleitung wollte sich auf Anfrage zu diesen Vorwürfen nicht äußern.

Wie bei so vielen Mobbing-Fällen fing es auch bei Sylvia ganz harmlos an. In der siebten Klasse lädt die damals 13-Jährige ihre Mitschülerinnen zu ihrem Geburtstag ein. Die Eltern machen eine Vorgabe: Nicht mehr als zehn Gäste. Drei Mädchen, die deswegen nicht eingeladen werden, wenden sich enttäuscht von ihr ab. Dann, kurz darauf, spricht die gesamte Klasse nicht mehr mit ihr. Sylvia wird wie Luft behandelt, und das über Wochen. „Zuerst wusste ich gar nicht, wie ich reagieren soll“, erinnert sie sich. Als die mit ihr verfeindeten Mädchen merken, dass Sylvia es aushält, von allen geschnitten zu werden, ändern sie ihre Taktik. In den Pausen und im Klassenzimmer wird sie offen beschimpft und gedemütigt.

Keine Hilfe von außen angenommen

Der Klassenlehrer reagiert auf die Situation mit einem Klassengespräch. Doch das Gespräch eskaliert nach wenigen Minuten. „Mein Lehrer war total überfordert. Anstatt zu moderieren, fragte er nur, was los sei und ließ dann zu, dass andere mich beschimpften“, erinnert die Schülerin sich. Gemeinsam mit ihren Eltern sucht sie nun Hilfe beim Schuldirektor. Dieser verspricht, sich um das Problem zu kümmern, doch nichts passiert. „Im Nachhinein denke ich, dass wir in diesem Moment Hilfe von außen gebraucht hätten“, reflektiert Sylvia die Ereignisse von damals.

Hierfür gibt es in jeder Stadt im Ruhrgebiet einen schulpsychologischen Dienst. Sylvias Beispiel zeigt, dass nicht alle Schulen bereit sind, die dort angebotene Hilfe anzunehmen. Und das kann, wie bei dem Klassengespräch bei Sylvia, fatale Folgen haben. „Ein unmoderiertes Klassengespräch kann die Situation wesentlich verschlimmern“, sagt auch Günther Warberg, Schulpsychologe aus Mülheim.

Beide Schulpsychologen sind sich einig: Ungeschulte Lehrer, die spontan reagieren, verschlimmern die Situation oftmals. Zu viele Lehrer verstünden nicht, dass Mobbing kein Problem zwischen Opfer und einem einzelnen Täter ist. „Beim Mobbing geht es immer um die ganze Klasse“, sagt Warberg. Immer gebe es Unterstützer des Täters und eine passive Masse.

Den Glauben an die Lehrer verloren

Was passieren kann, wenn Lehrer nicht oder falsch reagieren, zeigt zudem ein weiteres Ereignis in Sylvias Geschichte. Ihre Situation eskalierte während eines Schulaustauschs nach England: Ein Teil der Mädchen, die Sylvia verfolgen, fährt mit. Sie verbreiten das Gerücht, dass Sylvia leicht zu haben sei. Die Lehrerin, die beim Schüleraustausch mit dabei ist, verspricht ihr daraufhin, die Mädchen zu bestrafen, tut es aber nicht. Die Schülerin hat den Glauben an eine Unterstützung durch ihre Lehrer dadurch endgültig verloren. Ihre Mitschüler, durch das passive Verhalten der Lehrer ermutigt, machen weiter. Zurück in Deutschland verletzt eine Schülerin Sylvia mit einem Tritt in den Rücken so schwer, dass sie ins Krankenhaus muss.

Im Fall von Sylvia bedeutete dies, dass sie ihren Kampf nach anderthalb Jahren aufgab. Sie verließ die Schule und wechselte auf ein anderes Gymnasium. Mit ihrem Buch und durch die Unterstützung durch die FDP hofft sie nun, anderen Mut zu machen und auch anderen Politikern die Augen zu öffnen, dass es nicht reicht, es den Schulen zu überlassen, ob sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen oder nicht.