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Den Schulen steht eine Pensionierungswelle bevor, gleichzeitig werden zu wenig Lehrer ausgebildet. Die Folgen sind dramatisch: Bald könnte zwischen den Ländern ein Verteilungskampf um Lehrer ausbrechen. Schon jetzt ist Hessen für einige NRW-Lehrer deutlich attraktiver.

Lehrer wie Burkhard Struwe hätte NRW dringend nötig. Der 43-Jährige unterrichtet Physik und Technik, zwei Fächer, für die Schulen im Land vergeblich nach Lehrern suchen. Doch Struwe hat NRW den Rücken gekehrt. Er hat einen anderen Arbeitgeber gefunden, der deutlich attraktiver ist. Hessen köderte den Seiteneinsteiger gleich dreifach: mit einer längeren Verbeamtungszeit, einem besseren Lohn und kürzeren Arbeitszeiten. „Mein Nettolohn ist in Hessen rund 500 Euro höher“, sagt Struwe. So pendelt er jeden Tag mehr als 50 Kilometer vom sauerländischen Eslohe nach Willingen, direkt hinter der Grenze. Dort unterrichtet er an einer Gesamtschule. In NRW hat der Maschinenbauingenieur nur sein Refrendariat gemacht.


Die Lehrerlücke wächst weiter

Wilfried Müller-Radtke ging noch einen Schritt weiter. Für seine Stelle in Hessen hat er eine Zweitwohnung gemietet. Von Montag bis Freitag lebt der Bonner Familienvater nun in Marburg und unterrichtet an einer Gesamtschule in der Nähe. Auch er hat sich spät für den Lehrerberuf entschieden. „In NRW wäre ich nie verbeamtet worden“, sagt der 47-Jährige. Hier ist mit 40 Jahren Schluss, in Hessen liegt die Grenze dagegen erst bei 50 Jahren. Und Müller-Radtke verdient sogar 1100 Euro netto mehr im Monat. „Als die Schulleiterin aus Hessen bei mir anrief, brauchte ich nur wenige Minuten, um ‚Ja’ zu sagen.“

Schlechte Studienbedingungen: Nur die Hälfte der Studienanfänger landen letztendlich am Lehrerpult, die andere Hälfte bricht ab oder entscheidet sich für einen anderen Job.Foto: ddp
Schlechte Studienbedingungen: Nur die Hälfte der Studienanfänger landen letztendlich am Lehrerpult, die andere Hälfte bricht ab oder entscheidet sich für einen anderen Job.Foto: ddp © Unbekannt | Unbekannt





Bundesländer wie Hessen oder Baden-Württemberg gehen in anderen Ländern gezielt auf Lehrerfang. Denn die Lehrerlücke wird immer größer. Derzeit sind laut NRW-Schulministerium 190 Stellen unbesetzt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW geht jedoch von einer weit höheren Zahl aus, da einige Schulen freie Stellen erst gar nicht mehr ausschreiben würden. „Der Lehrer-Arbeitsmarkt in NRW ist leergefegt“, sagt GEW-Landesvorsitzender Andreas Meyer-Lauber.


„Schulen können sich vielfach nicht leisten, Lehrer abzulehnen“

Und der Notstand in den Lehrerzimmern wird immer größer. Die Schulen stehen vor einer gewaltigen Pensionierungswelle. „Bis 2020 gehen die Hälfte der derzeit beschäftigten Lehrer in den Ruhestand“, sagt Klaus Klemm, Bildungsforscher der Universität Duisburg-Essen. Das bedeutet: NRW muss bald um jeden Kandidaten kämpfen. Denn spätestens dann droht ein Verteilungskampf um Lehrer, besonders um jene, die begehrte Mangelfächer wie Mathematik, Informatik, Latein, Musik oder Naturwissenschaften unterrichten. „Ich erwarte, dass vor allem finanzstarke Länder wie Bayern und Baden-Württemberg die Besoldung nach oben schrauben und somit finanzschwachen Ländern die Lehrer abwerben werden“, warnt Klemm.

Um den jetzigen Stand von knapp 789.000 Lehrern zu halten, müssten laut Klemm in den kommenden Jahren jährlich 38.000 neue Lehrer eingestellt werden. Dem stehen jedoch nur bis zu 26.000 fertig ausgebildete Lehrer pro Jahr gegenüber. Auch wenn die Zahl der Lehrerstellen parallel zu den sinkenden Schülerzahlen verringert würde, könnte dies den Lehrermangel nur abmildern, nicht aufhalten. Das Ziel der Landesregierung, in NRW kleinere Klassen einzurichten und den Ganztagsbetrieb weiter auszubauen, rückt damit in weite Ferne. Doch die Folgen sind noch dramatischer: „Die Schulen können sich vielfach nicht leisten, in Mangelfächern Lehrer abzulehnen, die die eigentlich erforderliche Ausbildung nicht erhalten haben“, sagt Klaus Klemm. „Das wird sich auf die Qualität des Unterrichts auswirken.“


Schlechte Studienbedingungen

Klemm und die Lehrergewerkschaft GEW fordern deshalb das Schulministerium auf, eine neue Prognose für den künftigen Lehrerbedarf in einzelnen Fächern vorzulegen. „Zurzeit sind die Studienanfänger auf vage Informationen, beispielsweise aus den Medien, angewiesen“, sagt Klemm. Das reiche absolut nicht aus, um Abiturienten zum Lehramts-Studium in einem Mangelfach zu bewegen. Das Ministerium arbeitet nach eigenen Angaben derzeit an einer aktuellen Version der Bedarfsanalyse von 2006. Ob diese jedoch, wie von der GEW gefordert, bereits vor der NRW-Landtagswahl im Mai vorliegt, ist noch unklar. Der jetzige Stand: Bis 2020 muss das Land rund 85.000 neue Lehrer einstellen, um den Bedarf zu decken.

Darüber hinaus müssten die Studienbedingungen dringend verbessert werden, sagt Klemm. Überfüllte Seminare, lange Wartezeiten und die hohe Belastung durch Nebenjobs – das sind die Umstände, unter denen künftige Lehrer lernen. Nur die Hälfte der Studienanfänger landet letztendlich am Lehrerpult, die andere Hälfte bricht ab oder entscheidet sich für einen anderen Job.

Die Gewerkschafter fordern zudem, dass die Verbeamtung von Lehrern bundesweit einheitlich geregelt wird, um die Abwanderung aus NRW zu stoppen. Pendler Müller-Radtke könnte sich durchaus vorstellen, aus Hessen zurückzukehren: „Wenn im Lehrerzimmer keine Zwei-Klassen-Gesellschaft aus Beamten und Angestellten mehr herrscht.“