Hagen.. Es gibt viele Anrufer bei der Telefonseelsorge, die einfach ein Sex-Gespräch erleben wollen. 50 Anrufe kommen hier am Tag rein – die meisten von ihnen drehen sich um das Thema Liebe.

„Sollen wir uns nach draußen setzen?“. Birgit Knatz ist dankbar, die vier Wände ihres Büros für das Gespräch mit unserer Zeitung verlassen zu können. Jeden Tag sitzt die Frau mit den schulterlangen braunen Haaren und dem freundlichen Lächeln viele Stunden am Telefon. Und spricht mit Menschen, die sie nie gesehen hat und wohl auch nie sehen wird. Birgit Knatz leitet die Telefonseelsorge Hagen-Mark. Gemeinsam mit einem Kollegen steht sie an der Spitze dieser Einrichtung der evangelischen und katholischen Kirche, die jedem Menschen einen Gesprächspartner bieten will. „Hier ist der Ort, an den man sich wendet, wenn man im Leben Probleme hat“, fasst Knatz zusammen, während sie sich ein Glas Wasser einschüttet.

Zwei Drittel der Ratsuchenden sind Frauen


Die Telefonseelsorge ist 60 Jahre alt. Einen Blick auf die bundesweiten Dimensionen der ökumenischen Einrichtung erlaubt die Gesamtstatistik für das Jahr 2015.


1,78 Millionen Anrufe hat die Telefonseelsorge im Jahr 2015 insgesamt in Deutschland entgegengenommen – etwas weniger als im Jahr zuvor. Rund 680 000 Anrufe davon waren allerdings kürzer als 60 Sekunden.
Nicht alle diese Anrufe konnten für die folgende inhaltliche Analyse ausgewertet werden. Sie bezieht sich vielmehr auf die Analyse von exakt 761 840 Anrufen im Jahr 2015 bei der Telefonseelsorge in Deutschland.


99 181 Anrufer hatten zum ersten Mal bei der Telefonseelsorge angerufen, eine weitaus größere Anzahl (408 496 Menschen) hatte dagegen schon zum wiederholten mal die Nummer gewählt. Bei 254 163 Telefonaten ließ sich das nicht genauer herausfinden.


89 Prozent aller Anrufer wollten anonym bleiben, nur elf Prozent nannten ihren Namen.


29 Prozent der Gespräche dauern 15 bis 30 Minuten, 29 Prozent bis zu zehn Minuten und 12 Prozent zwischen 10 und 15 Minuten. Nur 13 Prozent dauern länger als eine Stunde, davon ein Prozent länger als 90 Minuten.

7664 Menschen haben im Jahr 2015 auch per Online-Chat Rat und Hilfe bei der Telefonseelsorge gesucht. 24 365 Mal ging eine E-Mail mit Beratungsbedarf bei der Telefonseelsorge ein.


65,1 Prozent der Ratsuchenden bei der Telefonseelsorge waren im Jahr 2015 weiblich. Ähnliche Werte gab es bei den Anfragen per Chat und Mail.

In den Gesprächen über Liebe und Partnerschaft kommt die Diplom-Sozialarbeiterin mit Lebenswelten in Berührung, die so ganz anders sind, als häufig von Liebesfilmen oder Romanen gezeichnet. „Bei allen Anrufern ist die Enttäuschung darüber zu spüren, dass eine Beziehung nicht so läuft, wie erhofft“, so Knatz. Jedes Mal aufs Neue erlebt sie dann durch den Telefonhörer, wie schwer es vielen Anrufern fällt, die Probleme in Worte zu fassen: Die Stimmen klingen gedrungen, verkrampft, nervös.

Rund 50 Anrufe bekommt die Telefonseelsorge Hagen-Mark am Tag. Fünfzig Schicksale mit fünfzig eigenen Problemen, die so unterschiedlich sind, wie die Menschen am anderen Ende der Leitung. Gerade bei den Themen Liebe und Partnerschaft hängen die Probleme oft mit der Lebensphase zusammen, in der sich der Anrufer befindet: „Nach der Geburt des ersten Kindes ist es zum Beispiel bei vielen Männern so, dass sie sich nicht mehr beachtet fühlen. Die Frau kümmert sich nur um das Neugeborene und der Mann fühlt sich außen vor“, schildert Knatz und verweist im selben Atemzug auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Demnach arbeiteten Männer mit Kind im Schnitt zwei Stunden pro Woche länger als Männer ohne Kind. Bei Frauen sei dagegen die zusätzliche Belastung, die mit dem Nachwuchs einhergeht, ein wichtiger Grund für den Anruf bei der Telefonseelsorge. Sich plötzlich als Eltern zu verstehen und sein Leben zu organisieren – das ist die große Aufgabe, die viele Menschen zwischen 30 und 45 Jahren im ersten Moment überfordert.

Auch per Mail und Chat erreichbar

Birgit Knatz ist Leiterin der Telefonseelsorge Hagen-Mark.
Birgit Knatz ist Leiterin der Telefonseelsorge Hagen-Mark. © Unbekannt | Unbekannt

Mit fortgeschrittenem Alter folgen neue Herausforderungen. „Bei vielen Älteren setzt die Enttäuschung mit dem Rentenalter ein. Die Kinder sind aus dem Haus, der Beruf fehlt und vielen Paaren wird bewusst, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben“, erzählt Birgit Knatz und fügt hinzu: „Sie müssen sich als Paar neu finden“.

Seit 1995 können Betroffene auch über E-Mail oder im Chat mit der ökumenischen Telefonseelsorge Kontakt aufnehmen. Dabei gehört Birgit Knatz zu den ersten, die dieses anonyme Beratungsangebot etablierten. Besonders jüngere Menschen nutzen die Gelegenheit und geben im Schutz der Namenlosigkeit einen Einblick in ihre Gefühlswelten. Hier ist es besonders der Umgang mit ersten Trennungserfahrungen, der zu dem Wunsch nach einem Gespräch führt.

„Viele Jugendliche beenden eine Beziehung heute per Handy oder E-Mail, das schmerzt natürlich besonders“, erläutert Knatz. „Zudem lernen sich viele über Internet-Datingportale kennen und lieben. Und plötzlich merken manche, dass der Partner trotzdem beim Portal angemeldet bleibt“. Die Angst, nur zweite Wahl zu sein, bis ein besserer Partner gefunden ist – heute ein großes Thema, mit dem Birgit Knatz in vielen Gesprächen in Berührung kommt. „Das passt natürlich in unsere Gesellschaft. Jeder will sich selbst optimieren und immer besser werden“.

Abwehr der „Hummelsäcke“

Knapp die Hälfte aller Anrufer suchen jedoch bei der Telefonseelsorge kein tröstendes Gespräch, sondern wollen nur eines: sexuelle Befriedigung. Diese – intern als „Hummelsäcke“ bezeichneten – Anrufer erwarten ein kostenloses Telefonsex-Angebot und werden dafür sehr kreativ. „Meistens beginnt es mit einer rührenden Geschichte, bei der wir erst einmal zuhören. Plötzlich beginnt die Person dann, Komplimente zu verteilen und sozusagen ins Ohr zu schleimen“, schildert Knatz die skurrilen Anrufe. „Diese Personen wollen nicht ins Bordell, sondern suchen eine vermeintlich häusliche Biedermeier-Atmosphäre“. Mit der Zeit habe sich aber gelernt, sich vor diesen Anrufen zu schützen.

Knatz wirkt gelassen, als sie von diesen skurrilen Anrufen erzählt. Seit zwanzig Jahren ist sie inzwischen als Telefonseelsorgerin aktiv. Für die evangelische Christin eine Einrichtung, die unverzichtbar in unsere Gesellschaft gehört: „Um hier anzurufen, brauchen sie keine Diagnose. Wir sind keine Therapeuten, sondern Gesprächspartner, die eine freie Beratung anbieten“, betont sie und fügt hinzu: „Das Gespräch ist schon dann gelungen, wenn der Anrufer danach freier und entspannter Sprechen kann“.