Oberhausen..
Es kann dauern, bis die neun Hirne eines Kraken zu einem gemeinsamen Ratschluss kommen. Aber wenn es passiert, dann geht alles ganz schnell. Nach langem Hadern und Zögern hat das sogenannte Oktopus-Orakel im Sea Life Center Oberhausen gestern seinen „Tipp“ für das WM-Viertelfinale Deutschland gegen Argentinien abgegeben. Krake „Paul“ aß das Muschelfleisch aus dem Kästchen mit der deutschen Fahne. Deutschland gewinnt!
Es ist dunkel, es ist stickig. Reichlich Kameramänner und Fotografen drängen sich vor einer etwa drei Quadratmeter großen Scheibe. Doch der wirbellose Weise, für den alle gekommen sind, hockt - gar nicht telegen - in einer mit Steinen vollgestellten Ecke seines Aquariums und hat die Tarnfarbe eines verwaschenen Holland-Trikots angenommen. Im Hintergrund dudeln in einer Endlosschleife WM-Songs wie „Waka Waka“ und „54-74-90-2010“. Doch selbst die singende Nationalmannschaft von 1974 mit „Fußball ist unser Leben“ erträgt man, wenn man nur gleich zum Orakel vorgelassen wird. Paul ist eine Instanz in Fußball-Deutschland. Er hat bei früheren Muschelurteilen dreimal korrekt aus dem deutschen Schälchen genascht und - was ihn noch glaubhafter macht - vor dem zweiten WM-Vorrundenspiel das serbische Schälchen gewählt. Vier Spiele, vier richtige Tipps. Das bekommt sonst nur die Wett-Mafia hin.
Diesmal ziert sich Paul, den Aberglauben einer fußballverrückten Nation zu bedienen. „Ist wohl nicht sein Tag“, sagt Sebastian Krüger, Besucherbetreuer im Sea Life Center. Der 25-Jährige gibt den Dolmetscher des Orakels: „Vielleicht will er uns sagen, dass es ein echtes Geduldspiel wird.“
Acht Arme mit je einem Gehirn halten still. Und auch das Haupthirn sagt den drei Herzen des Oktopus nicht, dass sie jetzt endlich für Deutschland schlagen sollen. „Es sind halt mystische, geheimnisvolle Tiere“, versucht Krüger zu erklären, weshalb dieses Orakel so gut ankommt. Aber eigentlich wird Paul doch nur für seine tolle Quote geachtet. Der wüsste sicher auch, ob’s Gauck oder Wulff wird.
Still ruht das Aquarium, obwohl der Krake sanft mit einem Kettchen geneckt wird. So spielt man mit Wirbellosen, ohne sie zu verletzen, erklärt Krüger. Wieder läuft „Waka Waka.“ Offenbar keine gute Musik für ein Kopffüßler-Frühstück. Es bleibt also Zeit, einige Statistiken durchzugehen. Grundsätzlich gilt: Deutsche Tierorakel werden überschätzt. Wer erinnert sich schon noch an das Zwergäffchen Baileys aus dem Zoo Chemnitz, das mal einen guten Ruf hatte. Dann sagte es bei der EM 2008 eine Niederlage gegen Österreich voraus. Lachhaft! Oder Walter, der Orang Utan aus Dortmund, der vor Revierderbys immer tapfer das BVB-Trikot überstreift. Und dann gewinnt doch wieder Schalke.
Plötzlich ist Paul hellwach - aus der Tiefe des Raums greifen vier Arme nach dem deutschen Töpfchen und nur eines schlängelt gen Argentinien. Der deutsche Deckel hebt sich und fällt. „Den muss er doch jetzt versenken“, findet sein Dolmetscher. Aber Paul dreht ab. Offenbar war es abseits.
Der Deckel ist jetzt zwar ab - aber der Krake lungert wieder in seiner Ecke rum. Die Fotografen werden langsam ungeduldig. Es läuft schon die 64. Spielminute. Die Sprecherin des Sea Life Centers findet, dass man ja auch dieses halbe Tor gelten lassen könnte. Strittig, sehr strittig, diese Entscheidung. Aber Paul, der Weise, erlöst sie alle. Ein kurzer Aufstieg im Aquarium, dann formt er sich zu einem Fallschirm, stößt nieder und - „ja, ja, jaah“, es wird wirklich gejubelt im Pressetross - er greift sich die deutsche Muschel.
Als wir gehen, läuft „Fußball ist unser Leben“. Man ist sich einig: Das hier war ganz großer Unterwassersport. Neben Paul wohnt übrigens, völlig unbeachtet, die schwarzbraune Seegurke. Wie hätte die wohl getippt?