Mannheim. Die erste Fotografie der Welt kehrt nach 50 Jahren nach Europa zurück: Für eine einzige Ausstellung ist die 1826 entstandene Heliographie mit dem Titel “Blick aus dem Fenster in Le Gras“ in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zu sehen. Den Rahmen bietet “Die Geburtsstunde der Fotografie. Meilensteine der Gernsheim-Collection“.
Es gilt als die "Mona Lisa" der Fotografie, doch seine Magie enthüllt sich erst auf den zweiten Blick. Das Werk "Blick aus dem Fenster in Le Gras" von Joseph Nicéphore Niépce aus dem Jahr 1826 hat weder ein besonderes Motiv noch ist es besonders auffällig - und doch ist es weltberühmt: Es handelt sich um die allererste Fotografie der Welt. Normalerweise befindet sie sich im Harry Ransom Center der Universität Austin im US-Bundesstaat Texas. Es hat die legendäre Heliografie bislang noch nie ausgeliehen und selbst weltberühmten Museen wie dem MoMA in New York und dem Centre Pompidou in Paris einen Korb gegeben. Doch nun kommt das Bild erstmals nach 50 Jahren wieder nach Europa - für eine einzige Ausstellung in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim.
Unter dem Titel "Die Geburtsstunde der Fotografie. Meilensteine der Gernsheim-Collection" werden im Museum Zeughaus ab Sonntag rund 250 Originalfotos aus der Sammlung von Helmut und Alison Gernsheim gezeigt. Darunter sind weltberühmte Fotos, die fest im kollektiven Bildgedächtnis verankert sind. Etwa Alfred Eisenstaedts "V-J Day in Times Square", das zeigt, wie ein Matrose im Freudentaumel über das Kriegsende eine ihm unbekannte Krankenschwester küsst. Oder Braissais "Bijou in der Bar de la Lune, Montmartre, Paris" von 1932, das eine alternde Prostituierte zeigt, die ihren gesamten Schmuck trägt. Oder eines von Robert Capas berühmtesten Bildern, das den Tod eines loyalistischen Milizionärs an der Cordoba-Front in Spanien im Jahr 1936 festhielt.
Fotos von Fox Talbot bis Cartier-Bresson
Die Liste der Fotografen, deren Werke ausgestellt werden, liest sich wie ein Who is Who der Fotografie - etwa Henri Cartier-Bresson, Robert Lebeck, Otto Steinert, Paul Strand, Henry Fox Talbot und Robert Mac Pherson. Die Ausstellung biete einen bisher nie da gewesenen Einblick in die Fotografie des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren unterschiedlichen Positionen, sagt Ko-Kuratorin Stephanie Oeben. Beschrieben werde die Entwicklung der Fotografie von den ersten Daguerreotypien über die Viktorianische Epoche bis hin zu Meisterwerken zeitgenössischer Fotografen. Erstmals überhaupt seien zudem die beiden Teile der Gernsheim-Collection - der größten privaten Fotosammlung der Welt - in einer Ausstellung vereint.
Gezeigt wird unter anderem das erste fotojournalistische Bild der Welt von David Octavius Hill und Robert Adamson, das einen Schiffslotsen im Hafen von Newhaven zeigt. Manche Fotos der damaligen Zeit nahmen Techniken von heute vorweg. So setzte Henry Peach Robinson für sein Werk "Lebensabend" aus dem Jahr 1885 fünf Negative zu einem einheitlichen Bild zusammen. "Mit Photoshop hätte man es nicht besser hinbekommen", sagt Oeben. Ein Raum der Schau ist dem Bildjournalismus vorbehalten. Dort werden berühmte historische Aufnahmen etwa von Adolf Hitler im Münchner Café Heck aus dem Jahr 1929 gezeigt. Der Fotograf Tim Gidal musste wenige Jahre später wegen seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland fliehen.
Das Highlight der Schau offenbart sich auf den zweiten Blick
Höhepunkt der Schau ist jedoch die erste Fotografie der Welt von Niépce, die vom Sammler Helmut Gernsheim in jahrelanger Detektivarbeit 1952 in London aufgespürt wurde. "Neben dem eigentlichen Werk werden vier Reproduktionen gezeigt, damit die Besucher nicht enttäuscht sind, wenn sie das Original sehen", sagt Oeben. Denn eine Heliografie ist kein Foto, wie es heute üblich ist. Es handelt sich um eine zunächst völlig unscheinbare Zinnplatte, die aus einem bestimmten Winkel das Motiv offenbart: ein Scheunendach, einen Birnbaum, einen Taubenturm, ein Haus mit Schornstein.
Bis sich das Auge an die spiegelnde Oberfläche gewöhnt hat und der Betrachter den perfekten Winkel gefunden hat, um es zu sehen, ist tatsächlich viel Geduld nötig. Aber es lohnt sich. Schon Gernsheim schrieb: "Ich veränderte den Winkel und plötzlich entfaltete sich vor meinen Augen ein Gesamtbild des Innenhofs. Die Damen waren sprachlos. Sie glaubten wohl, es handele sich um schwarze Magie." Das älteste Foto der Welt wird nach Angaben des Ransom Center nie wieder verliehen. Wer es sehen will, muss künftig nach Texas reisen. Bis zum 6. Januar 2013 reicht eine Fahrt nach Mannheim. (dapd)