Datteln.. Wer als Kind Gewalt erlebt hat, leidet sein Leben lang. Offiziell bekannt wurden im Jahr 2010 In Nordrhein-Westfalen knapp 900 Fälle von körperlicher Misshandlung an Kindern und Jugendlichen. Die Kinderklinik in Datteln geht neue Wege

Es gibt Momente, da muss man Profi sein, um ruhig bleiben zu können, anstatt zu zeigen, wie schockiert, entsetzt und wütend man ist. Etwa dann, wenn Eltern ihr Baby bringen, das unter Gehirnblutungen leidet, weil es so stark geschüttelt wurde. Wenn ein dreijähriges Mädchen Blutungen im Vaginalbereich hat, weil es vergewaltigt wurde. Wenn der Körper eines achtjährigen Jungen komplett mit blauen Flecken übersät ist, weil er von seinem Vater mit einem Stock verprügelt wurde. Oder wenn eine Fünfjährige ihren Arm zeigt, auf dem eine Zigarette ausgedrückt wurde.

„In solchen Situationen habe ich den Tunnelblick und versuche nur, alles besonders gut zu dokumentieren“, sagt Dr. Tanja Brüning (35). Denn Fälle wie diese gehören für die Kinderärztin und Chefarzt Prof. Michael Paulussen (50) zum beruflichen Alltag: Vor einem halben Jahr haben sie an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln eine medizinische Kinderschutzambulanz aufgebaut.

Das Ziel: Kindern in der akuten Situation zu helfen, sie zu schützen – und zugleich Eltern zu unterstützen, damit es nicht zu weiteren Misshandlungen oder Missbrauch kommt. „Für uns steht erst einmal das Kindeswohl im Mittelpunkt“, sagt Paulussen. „Wir sind nicht der Staatsanwalt und nicht das Gericht. Für uns ist zunächst nicht wichtig, wer der Verursacher war.“

Was nicht heißt, dass es für die Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter, die in einem interdisziplinären Team eng zusammenarbeiten, ohne Belang ist. Denn je nach Schwere der Misshandlung oder Verletzung informiert die Klinik auch die Polizei – und legt mit Blick auf mögliche spätere Gerichtsverhandlungen großen Wert auf eine umfassende Dokumentation. „Ein Kind ist immer ein relativ schlechter Zeuge“, sagt Brüning. „Wenn es gefährdet ist, ist man sehr darauf angewiesen, dass wir eine gute Diagnose erstellen.“

Speziell geschultes Personal, besondere Ausstattung

Dr. Tanja Brüning demonstriert anhand eines Stofftieres, wie man mit Hilfe eines so genannten Kolposkops schmerzvolle gynäkologische Untersuchungen bei Kindern vermeiden, Misshandlungen aber dennoch dokumentieren kann.
Dr. Tanja Brüning demonstriert anhand eines Stofftieres, wie man mit Hilfe eines so genannten Kolposkops schmerzvolle gynäkologische Untersuchungen bei Kindern vermeiden, Misshandlungen aber dennoch dokumentieren kann. © Knut Vahlensieck | Knut Vahlensieck

Die erfordert bei misshandelten Kindern nicht nur viel Sensibilität und ein speziell geschultes Personal, sondern auch eine besondere technische Ausstattung – vor allem, wenn eine genitale Untersuchung erforderlich ist. Die Kinderärztin benutzt dann ein Kolposkop. Es ermöglich eine schmerzfreie Untersuchung ohne Narkose und erspart dem Kind eine weitere Traumatisierung. Wie in dem Fall des dreijährigen Mädchens, das mit Verdacht auf Damm-Verletzung zu einer gynäkologischen Untersuchung zunächst in eine andere Klinik eingeliefert worden war: Eine zufällig anwesende Kinderärztin stoppte dort die Prozedur und brachte das Kind zu den Experten nach Datteln.

Immer häufiger nutzen niedergelassene Ärzte, aber auch Sozialarbeiter und Polizeibeamte das besondere Angebot der Medizinischen Kinderschutzambulanz. Zum Glück: Nicht nur, weil Ärzte wie Tanja Brüning und Michael Paulussen bei der Erkennung von körperlicher Misshandlung besonders viel Erfahrung haben, sondern auch, weil der „Fall“ mit der medizinischen Behandlung für sie nicht abgeschlossen ist. In einer speziellen Helfer-Konferenz wird individuell diskutiert, welcher Art die Verletzungen sind, ob das Kind in seiner Umgebung sicher ist, was es mit den Eltern zu besprechen gibt und ob man das Jugendamt oder die Polizei einschalten muss.

Aber oft genug sind sie einfach überfordert, verlieren die Nerven, wenn Babys schreien, schlagen und treten zu, wenn ein Kind sie nervt. „In vielen Fällen stimmen die Geschichten, die die Eltern uns erzählen, einfach nicht mit den Brüchen und Verletzungen ihrer Kinder überein“, sagt Paulussen. Doch wenn er die Eltern mit diesem Widerspruch konfrontiert, trifft er selten auf Ehrlichkeit. Eher stößt er auf eine Mauer des Schweigens, auf Schulterzucken.

Manchmal hilft schon der Weißkitteleffekt

„Vielen sieht man ihr schlechtes Gewissen an“, sagt Paulussen. Was jedoch kein Grund sei, auf eigene Faust weiterzuermitteln. „Wir sind ja nicht Sherlock Holmes. Wir sind auch nicht im Film, wo nach dem Geständnis der Abspann kommt. Wir wollen keinen Beweis. Wir wollen die Faktenlage sichern und dazu beitragen, dass dem Kind geholfen wird.“ Deshalb sagt er den Eltern in einer solchen Situation häufig: „Ich glaube, Sie brauchen Hilfe, um mit Ihrem Kind klarzukommen.“

Unterstützung gibt es für die Mütter und Väter dann zunächst von Sozialarbeiter Joachim Kantus: Er vermittelt nicht nur Kontakte zu den Jugendämtern, sondern hilft auch ganz praktisch, wenn es etwa darum geht, eine größere Wohnung zu finden. Oder auch einen Platz im Frauenhaus.

Auf Spendengelder angewiesen

Manchmal, sagt Tanja Brüning, helfe auch schon der „Weißkitteleffekt“: „Dann sage ich den Eltern: Was dem Kind passiert ist, ist schlimm und darf nie nie wieder geschehen.“

Ob eine solche eindringliche Ansprache tatsächlich langfristig Wirkung erzielt? Ob es ihnen gelingt, Kinder vor neuen Übergriffen gewalttätiger Eltern zu bewahren? Paulussen und Brüning können es nur hoffen. Und weiter dafür kämpfen, dass die wichtige Arbeit, die sie in Sachen Kinderschutz leisten, langfristig auch einmal von den Krankenkassen anerkannt wird. Bis dahin sind sie auf Spendengelder angewiesen: Rund 250 000 Euro kostet ein spezielles Software-Programm, das auch kleinste Blutungen bei einem Kernspin anzeigen würde. Bei der Frage, ob diese Ausstattung ihr Traum sei, wird Tanja Brüning ganz nachdenklich. „Es ist wichtig für die Kinder, dass wir so etwas entdecken können“, antwortet sie. Anders formuliert: „Es könnte Leben retten.“

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