Köln. Elfriede Jelinek hat das Stück zur Wirtschaftskrise geschrieben, und was da im Kölner Schauspiel auf die Bühne kommt ist der reine Wahnsinn: böse, witzig, sensationell.
Max von der Grün, der auf seine Weise auch ein Berserker war, hat gesprächsweise einmal gesagt: Ich schreibe, wie ich scheiße. Weil ich muss. Das könnte man auch von Elfriede Jelinek sagen und würde ihr damit kaum zu nahe treten; schriftlich ist die hoch introvertierte Nobelpreisträgerin verblüffend robust. „15 Prozent per anus” ist eine eher schwache Formulierung, und wenn bei der Uraufführung „Die Kontrakte des Kaufmanns” im Kölner Schauspiel auch die Toiletten mit Jelinek-Text beschallt würden wie die Foyers, es wäre nur logisch. Das hier ist nicht einfach Theater; es ist gefügtes Chaos. Geschriene Wut: maßlos.
Um halb acht war Regisseur Nicolas Stemann auf die Bühne getreten, hatte „Ja hallo” gesagt und dem Publikum mitgeteilt, dass es keine Inszenierung gebe; man werde den Text verlesen, drei Stunden lang oder vier, ohne Pause; man habe ein bisschen gestrichen, aber Elfriede Jelinek habe wieder was drangeschrieben; jeder möge kommen und gehen, wie er wolle und Getränke dürften mit in den Saal genommen werden. Im Übrigen habe das Stück 99 Seiten, ein Display werde ständig anzeigen, wie viele noch übrig seien. Das Publikum schluckte hörbar und dann fing es an, mit dem Chor der Kleinanleger.
«Das Nichts hätten wir Nichtswürdigen nicht gebraucht»
Zwei Alte, sie im trotzigen Jeansanzug, räsonieren über Zertifikate. Geld, das weg ist; die Zusatzrente. Später werden liebenswürdige junge Leute rufen: „Sie gehören der Bank!” Das ist alles, es wird aber unendlich variiert.
Dabei gelingt es Jelinek, der Klage Tragik zu geben, gleichzeitig aber in ihrem persönlichen scharfwitzigen Sound zu wüten. „Unsere Werte sind nichts wert.” „Das Nichts hätten wir Nichtswürdigen nicht gebraucht.” Sie kommt vom Erlös auf den Erlöserer, und wenn man denkt, ich halt's nicht länger aus, ist sie plötzlich faszinierend klar.
Die Bühne zerfasert wie der Text: Trashgewusel. Ein plastikverpacktes Sofa, ein Beinahe-Perser, ein Tischlein-Set dreiteilig. Alles wird nach und nach hinaus getragen, die Altchen landen in Rollstühlen. Weg damit. Dann der nächste Chor, und gesteigertes Schreien: „Unsere Anteile sind nichts mehr wert und Anteil haben wir auch nicht mehr.” Da gibt es den ersten Szenenapplaus.
Um halb neun ging die Erste leise hinaus, um zehn standen große Gruppen im Foyer; man aß, trank, lachte; aus Lautsprechern tönte, wie es im Saal tobte und jammerte. Ein Kirchenlied wurde angestimmt: „Der Börsenkurs ist gefallen, weh, weh, weh!” Ein paar Bänker skandierten: „Was Sie ererbt von Ihrem Vater, um es zu bewahren, das haben jetzt wir. Und das behalten wir auch.”
Es ist großartig und äußerst anstrengend zu erleben,wie Jelinek immer neue Textmassive auftürmt, wie sie eher wortwütig als analytisch beklagt, dass Menschen von Banken übers Ohr gehauen werden, wie sie unerschrocken banal insistiert. „Es waren Ihre Ersparnisse, jetzt sind es unsere. Das haben wir Ihnen erspart.”
«Es waren Ihre Ersparnisse, jetzt sind es unsere»
Stemann aber macht ein Oratorium daraus und einen Comic; er holt ein Klavier dazu: pingplirr, eine Geige: streich. Seine sanfte Inszenierung ist eine Hommage an Elfriede Jelinek, aber auch eine Kapitulation vor ihrer Sprachgewalt. Er lässt den Rhythmus schwellen; peng! ein Schlagzeug greift ein, die Worte werden zum fernen Rauschen. Das alte Paar hat sich Schafsköpfe aufgesetzt und tanzt melancholisch, ein Schauspieler fragt von hinten: „Auf welcher Seite sind wir? 70? O Gott.”
Irgendwann muss ich eingenickt sein. Als ich aufschreckte, zeigte das Display 49, der Herr neben mir las eine SMS und ich bekämpfte den starken Wunsch, unauffällig zu gehen. Elfriede hätte das verstanden. Ich blieb aber und erlebte eine grandiose Steigerung. Nach irgendeinem Stakkato, in dem das Wort „Mehrwert” vorkam, krachten Metallpfeiler auf die Bühne, alles schrie, dann segelten Luftballons umher und das Klavier summte.
Es gab dann noch einen Einschub mit Demonstranten, die die Bank anzünden wollten, aber zum Schluss stiegen die Schauspieler sacht, wie träumend, über Stuhlreihen und Publikum hinweg, sie sangen dazu, und kehrten zur Bühne zurück und stiegen in einen blinkenden Tresor, der vom Himmel geschwebt war.
Kurz nach elf flammte das Licht auf und das vollzählig anwesende Publikum überschüttete alle beteiligten mit unerhörtem Dankgeschrei.
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