Lüdenscheid. Der hoch geachtete frühere Lüdenscheider Oberbürgermeister Erwin Welke soll für den Geheimdienst der DDR gearbeitet haben. Tarnname: Gustel. Ein Bericht deckt nun auf: Welke war Informant für die Stasi. Ob bewusst oder unfreiwillig, ist nicht ganz zu klären. Ein Rest Unsicherheit wird bleiben.

Das Stadtarchiv nennt ihn den „großen alten Mann der Kommunalpolitik in Lüdenscheid“. Sieben Jahre, von 1964 bis 1971, regierte Erwin Welke die westfälische Kommune. Welke ist eine Lichtgestalt in der Politik der „Stadt des Lichts“. Seine Jahre als Oberbürgermeister (Anm. d. Red.: als kreiszugehörige Stadt hat Lüdenscheid mittlerweile 'nur' noch einen Bürgermeister) waren die eines rasanten Aufbaus und der „unzähligen richtungsweisenden Entscheidungen“.

Erwin Welke war 1971 gefeierter Ehrenbürger

Der Mann ist in guter Erinnerung, die Chronik seiner Arbeit reich bestückt: Die Stadt erhält eine Musikschule. Die Sanierung der Altstadt wird angepackt. Lüdenscheid wird mit der Sauerlandlinie A45 an das Autobahnnetz angeschlossen. Die Neugliederung lässt das Gemeinwesen von 57.000 auf 78.000 Einwohner wachsen. Erwin Welke wird, als er Ende 1971 in Pension geht, gefeierter Ehrenbürger. Seit 1996 trägt eine Grundschule seinen Namen.

Aber der SPD-Politiker Erwin Welke, der nicht nur Oberbürgermeister war, sondern auch Mitglied im NRW-Landtag und dann, über fünf lange Legislaturperioden, im Bonner Bundestag, hatte noch eine andere Seite. Er war, das steht fest, ein Informant des Staatssicherheitsdienstes der DDR.

Ob er bewusst als Stasi-Agent tätig war, ob er die wahre Identität seiner Gesprächspartner bei den häufigen Treffen nur ahnte oder ob er als ahnungsloses, abgeschöpftes Opfer in eine Falle tappte? Das bleibt unklar. Was gilt: „Die Karteikartenerfassungen legen die Schlussfolgerung nahe, dass die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung, Red.) von Welke seit Mitte der fünfziger Jahre bis zum Ende seiner Bundestagszugehörigkeit eine Vielzahl von Informationen bezog und Welke auch auf die Abgeordneten Beuster, Brünen und Steinhoff angesetzt werden sollte.“

Studie über die Mitglieder des Deutschen Bundestags

Der belastende Satz steht auf Seite 228 eines 400-Seiten-Reports der Stasi-Unterlagenbehörde, der seit Ende Mai Bundestagspräsident Norbert Lammert vorliegt. Im Bericht „Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989 in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR“ wird beschrieben, wie und mit welchen Personen der kommunistische deutsche Teilstaat auf seinen großen westlichen Nachbarn politisch Einfluss genommen hat. Die HVA, die dabei Regie führte, ist der Auslands-Geheimdienst des Ministeriums gewesen.

Präzise hat sie Buch geführt, aber oft auch verschleiert. Welke war – zwischen April 1955 und April 1982 – die Hauptperson in einer ihrer Akten. Tarnname: „Gustel“. Auffallend daran war, dass seine Berufstätigkeit als Redakteur der Westfälischen Rundschau sowie die Zugehörigkeit zum SPD-Parteivorstand erwähnt sind, nicht aber seine Mitgliedschaft im Bundestag.

„Der Vorgang Gustel muss für die HVA sehr ergiebig gewesen sein“, schreibt Georg Herbstritt, Mitarbeiter der Forschungsabteilung der Stasiunterlagen-Behörde. Herbstritt hat die sogenannte Rosenholz-Datei ausgewertet, die Deutschland erst vor zwölf Jahren aus den USA zurück erhielt, und auch die Sira-Daten, die Angaben über die Stasi-Tätigkeit nach 1969 machen. Beide Dateien sind Rückgrat-Dokumente der Arbeit der Jahn-Behörde. Sie hat zweieinhalb Jahre für die Studie gebraucht.

Unterrichtete Erwin Welke Ost-Berlin über seine SPD-Parteifreunde?

Was hat der frühere Lüdenscheider Oberbürgermeister preisgegeben? Der federführende Wissenschaftler Herbstritt ist in der Akte „Gustel“ auf Namen anderer politischer Schwergewichte gestoßen. Den des damaligen Duisburger Abgeordneten Eberhard Brünen, des Dortmunder MdB Willi Beuster, der ebenfalls bei der Westfälischen Rundschau als Abteilungsleiter gearbeitet hatte, und auf den von Fritz Steinhoff. Steinhoff war in den 50er-Jahren erster SPD-Regierungschef in Nordrhein-Westfalen.

Möglicherweise hat Welke über diese Parteifreunde nach Ost-Berlin berichtet oder sollte dies zumindest tun. In der zweiten Jahreshälfte 1969 kamen aus der gleichen Quelle Informationen „über Meinungen führender SPD-Politiker über den damaligen Bundestagswahlkampf sowie Auffassungen zur Deutschland- und Ostpolitik“. Das hatte in dieser Zeit hohe politische Brisanz. Kanzler Willy Brandt bildete das sozialliberale Kabinett. Er leitete damals den Kurswechsel in der Deutschlandpolitik ein.

Welke wurde 1910 in Dortmund geboren. Mit 13 ging er in die Sozialistische Arbeiterjugend, 1928 in die SPD. Zweimal, 1933 und 1935, verhafteten ihn die Nazis, steckten ihn als Gegner der braunen Horden wegen „Hochverrats“ ins Zuchthaus. Schließlich geriet Welke 1945, nach einer Zeit in der berüchtigten Strafeinheit „999“, in amerikanische Gefangenschaft.

2170 Parlamentarier sauber — nur neun gelten sicher als Agenten

Viele in dieser Generation der Sozialdemokraten waren, vor dem Hintergrund der Erfahrung der Nazi-Herrschaft, in den unsicheren ersten Nachkriegsjahren zunächst innerlich zerrissen: Wo finden wir das bessere Deutschland? Im Osten? Im Westen? Welke schien entschieden gewesen zu sein. Nach der Rückkehr begann er die Aufbauarbeit in Lüdenscheid. Ein höchst honoriger Lebenslauf also.

Es hätte einer sein können wie bei den 2170 Parlamentariern des demokratisch gewählten Deutschen Bundestages seit 1949, die nach dem jetzt vorliegenden 400-Seiten-Report definitiv nichts mit der Stasi zu tun hatten. Aber so war es nicht. Neun andere, darunter der verurteilte Karl Wienand, waren nachweislich überzeugte Agenten. Elf weitere: Möglicherweise. Zu ihnen zählt Erwin Welke. „Bei ihnen“, so der Bericht, „deuten die Eintragungen in den Rosenholz-Karteikarten jeweils auf eine längere andauernde Verbindung zur HVA hin.“ Auch: „In den meisten dieser Fälle fehlen Hinweise auf den Charakter dieser Verbindung.“

Im Fall Welke wird ein Rest Unsicherheit wohl immer offen bleiben. Das ist seine Tragik und die der jüngsten deutschen Geschichte. Erwin Welke starb im Mai 1989. Fünf Monate später fiel die Mauer.