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Sie wurde als Kind neun Jahre lang vom Stiefvater missbraucht, ihre Mutter sah weg. 30 Jahre später schreibt Mona Michaelsen das Erlebte in ihrem Buch „Flüsterkind“auf. Ein Interview über ein schreckliches Schicksal und dessen mühsame Bewältigung.
Ihr Buch „Flüsterkind“ ist ein 278-Seiten-langer Brief an Ihre Mutter, die wegschaute, als Ihr Stiefvater sie jahrelang missbrauchte. Sie haben den Brief nie abgeschickt. Warum jetzt dieses Buch?
Mona Michaelsen: Ich habe diesen Brief nie abgeschickt, weil ich irgendwann erkannt habe, dass der Brief auf meine Mutter keinen Eindruck machen würde. Dass ich keinerlei Reaktion würde erwarten können. Das geschah aber zu einem Zeitpunkt, an dem ich so viel geschrieben hatte, dass es genug für ein Buch war. Damit war die Buch-Idee geboren. Mein Mann hat mich dann motiviert, den Brief zu Ende zu schreiben. Er fand, dass das gut für mich sei, womit er absolut Recht hatte. Beim Veröffentlichen hat er mich motiviert und unterstützt.
Was hat es Ihnen bedeutet, die Seiten zu verfassen und die Taten Ihres Stiefvaters in Worte zu fassen?
Michaelsen: Das war ein Eintauchen in meine Kindheit und Jugend. Es war wirklich so, als sei es gestern erst gewesen. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich den Brief komplett geschrieben hatte. Das Schreiben hat mir sehr viel bedeutet. Es war so, als ob ich den Deckel von etwas geöffnet hätte, was sonst übergekocht wäre. Sonst hätte ich wohl nie mehr etwas gesagt, nie mehr darüber gesprochen und es alleine mit mir herumgetragen. Das wäre sicher im Sinne meines Stiefvaters gewesen. Von daher war es gut, dass dieser Deckel aufgemacht wurde.
Sie beschreiben sehr genau und mit allen schrecklichen Details, wie Ihr Stiefvater Sie sexuell misshandelt hat. Auch die Wortwahl ist entsprechend hart. Warum?
Michaelsen: Man muss bedenken, dass der Text eigentlich als Brief an meine Mutter gedacht war. Ich wollte, dass sie die Details kennt, die sie überhaupt nicht hat wissen wollen, die sie immer abgeblockt hat, wenn ich drüber sprechen wollte. Und die Details waren nicht freundlich. Er tat mir Dinge an und sagte mir Dinge, die waren nicht freundlich. Und ich fand nicht, dass ich die abmildern sollte. Die Wortwahl steht ja auch für den Schrecken, den ich durchleben musste. Meine Mutter sollte es nur lesen, ich musste es durchleben. Deswegen habe ich es nicht nur angedeutet.
Sie erzählen Ihre Geschichte aus der Perspektive des kleinen Mädchens, das Sie damals waren. Das macht die Schilderung um so plastischer und grausamer. Keine leichte Kost. Für wen haben Sie das Buch letztlich geschrieben? Wer ist Ihre Zielgruppe?
Michaelsen: Meine Zielgruppe sind auch Betroffene. Obwohl Betroffene vom Lesen vielleicht noch betroffener werden. Aber ich will anderen Betroffenen damit sagen: Schaut mal her! Wenn ich das kann, dann könnt Ihr das auch. Haltet nicht den Mund. Schleppt das nicht Euer Leben lang nur mit Euch herum. Klagt an! Ihr habt das Recht anzuklagen. Ihr seid Opfer, ihr seid nicht die Täter, auch wenn Euch etwas anderes gesagt wurde. Macht Euren Mund auf, Euer Leben kann davon nur besser werden.
Und natürlich will ich auch Menschen sensibilisieren. Wenn sich ein Kind im Umfeld stark verändert, muss man hinschauen und gucken, woran das liegen kann. Denn eine Ursache dafür ist nun mal der Missbrauch.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Mitarbeiter vom Vormundschaftsgericht und eine Lehrerin bei Ihnen zuhause waren, um ihre Lebensumstände zu prüfen. Geholfen wurde ihnen nicht.
Michaelsen: Diese Lehrerin war furchtbar lieb. Sie wusste aber nichts von dem Missbrauch. Ich war einfach nur das merkwürdige Kind in dieser Klasse. Ich war das arme Kind, das Kind aus dem Armenhaus, das am Friedhof wohnt, das immer altmodische Klamotten trug, das Kopfläuse hatte. Sie dachte, ich hätte vielleicht deswegen Probleme. Von dem Missbrauch hat sie nichts gewusst.
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Michaelsen: Nein, das waren andere Zeiten damals. Ich glaube nicht, dass das heute so krass noch mal passieren könnte. Heute sind unter anderem auch Lehrer sehr sensibel für Kinder, die plötzlich zu Außenseitern werden oder es schon immer waren. Sie hinterfragen heute, teilen es ihren Kollegen mit und die ganze Lehrerschaft beobachtet dann. Ich glaube, dass Verantwortliche, besonders auch das Jugendamt, heute sehr viel sensibler sind.
Es gibt einen Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie und den Vorkommnissen in Klosterschulen und Internaten. Dennoch: Was denken Sie über die Welle von Enthüllungen, die zurzeit durch die Presse gehen?
Michaelsen: Da bin ich zuerst einmal froh, dass es überhaupt herausgekommen ist. Und es nährt die Hoffnung in mir, dass immer mehr ans Tageslicht kommen wird. Was geschehen ist, ist zwar geschehen, und nachträglich hilft den Opfern nichts mehr. Aber jeder Fall, der an die Öffentlichkeit kommt, kann helfen vorzusorgen, dass in Zukunft weniger solcher Horrorszenarien geschehen. Für das Opfer macht es keinen Unterschied, ob der Missbrauch innerhalb der Familie passiert oder woanders. Der Missbrauch ist für ein Kind immer tödlich für die Seele.
Wie sind Sie denn aus dieser Situation heraus gekommen?
Michaelsen: Als ich mit Mitte zwanzig dazu bereit war, habe ich viel mit meinem Mann, später mit Freunden darüber gesprochen. Dann habe ich das Erlebte aufgeschrieben. Und meine eigene Familie hat mir geholfen, um die ich mich kümmern, bei der ich alles besser und anders machen konnte. Aber es hat immerhin gedauert, bis ich 45 wurde. Das ist eine lange Zeit. Andere schaffen es nie.
Obwohl der eigentliche Täter Ihr Stiefvater war, schreiben Sie den Brief an Ihre Mutter. Was ist die Botschaft, die Sie an wegschauende Mütter haben?
Michaelsen: Dass sie durch das Wegschauen das Seelenheil ihres Kindes riskieren. Dass sie genauso schuldig sind, wie der, der die tatsächlichen Übergriffe auf das Kind vollzieht - wenn nicht noch schlimmer. Das darf nicht sein. Sie müssten sofort eingreifen. Egal, wie groß die Liebe zu einem Mann ist: Sobald man Missbrauch heraus findet, dann ist die Liebe zu dem Mann doch vorbei.
Sie haben den Brief an Ihre Mutter nie abgeschickt. Jetzt veröffentlichen Sie dieses Buch unter Pseudonym, treten aber mit ihrem Foto öffentlich auf. Rechnen Sie mit einer Reaktion Ihrer Mutter?
Michaelsen: Ich weiß nicht, womit ich rechnen kann. Wenn eine Reaktion kommt, wird es sicherlich keine positive sein. Den Gedanken, dass sie sich einfach bei mir melden und sich entschuldigen könnte, habe ich lange aufgegeben. Deswegen habe ich einfach entschieden, den Brief nicht nur an sie, sondern an viele Menschen zu schreiben. Angst habe ich nicht vor der Reaktion.
Sie nennen Ihren Stiefvater nie beim Namen, sondern „Dein Scheißer“, „Deine Drecksschleuder“ oder die „Amöbe“. Da klingt enorm wütend. Auch nach mehr als 30 Jahren. Werden Sie mit dem Kapitel Ihres Lebens jemals abschließen?
Michaelsen: Ich werde vielleicht meinen Frieden damit schließen. Aber Abschließen? Vollkommen und komplett? Nein, das glaube ich nicht. Und ich werde ihn nicht beim Namen nennen, weil er das nicht wert ist.
„Flüsterkind. Dein Mann hat mich missbraucht. Ein Brief an meine Mutter“, Mona Michaelsen, Schwarzkopf & Schwarzkopf, erscheint am 15. März.