Dortmund. Der Stadt Dortmund droht die soziale Spaltung. Das Risiko, von Armut bedroht zu werden, ist in Dortmund höher als anderswo, sagt der Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge. Er kritisiert: In der Stadtverwaltung redet man die Probleme schön.

Das Risiko, von Armut bedroht zu werden, ist in Dortmund höher als anderswo. Bundesweit belegt die Stadt statistisch einen traurigen Spitzenplatz. Über die Folgen von Armut und Armutszuwanderung sprach Tobias Großekemper mit dem Forscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge, der in Dortmund aufgewachsen ist.

Dortmund hat eine dramatische Armutsquote, ein Viertel der Bevölkerung ist arm oder von Armut bedroht. Das ist ein bundesweiter Spitzenwert. Was bedeutet ein solcher Wert für eine Stadtgesellschaft?

Christoph Butterwegge: Dass sich die Stadtgesellschaft spaltet, weil sich Armut und Reichtum sozialräumlich konzentrieren. Die soziale Trennlinie verläuft in Dortmund geografisch zwischen Norden und Süden, wodurch die Stadt im Extremfall zerrissen werden kann: Gutbetuchte wohnen gern zusammen mit anderen Wohlhabenden im Süden und haben wenig Verbindungen zum Norden. Umgekehrt können Menschen, die in der Nordstadt wohnen und denen das Geld fehlt, gar nicht in den Süden ziehen. Man kann von Parallelgesellschaften sprechen und hat es im Grunde mit zwei Städten zu tun. In beiden Fällen findet eine gefährliche Ghettoisierung statt.

Warum?

Butterwegge: Schauen Sie auf die Wahlbeteiligung: Bei sozial benachteiligten Menschen in Hochhausvierteln ist die Wahlbeteiligung sehr gering, in Villenvierteln ist sie traditionell sehr hoch, darunter leidet die kommunale Demokratie. Wenn sich die Parteien in ihrer Stadtentwicklungspolitik den Vierteln zuwenden, in denen sie ihre Wählerstimmen verorten, verstärkt das noch die Zerfallstendenzen, und die Zukunft der Stadtgesellschaft ist akut gefährdet.

Gibt es für die Entwicklung, die wir in den letzten Jahren in Dortmund sehen, Beispiele? Also Städte, die das bereits durchlebt haben?

Butterwegge: Man könnte von einer US-Amerikanisierung des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes sprechen, die zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur und der Stadtentwicklung führt. Das ist eine aus vielen Drittweltländern bekannte Entwicklung, die den sozialen Frieden bedroht, weil Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt steigen, was fast alle Bewohner einer Stadt trifft, auch die Mittelschicht.

Wie kann eine Stadt reagieren?

Butterwegge: Auf zweierlei Art: Entweder verhält man sich solidarisch mit den Schwächeren oder man grenzt sich ihnen gegenüber ab, in dem nach unten getreten und nach oben gebuckelt wird.

Als die letzten Armuts-Zahlen in Dortmund auf den Tisch kamen, formulierte es die Stadt ungefähr so: Einer armutsgefährdeten Person hier geht es signifikant besser als zum Beispiel in München, weil hier die Mieten als auch die Lebenshaltungskosten deutlich geringer seien. Stimmt das?

Butterwegge: So kann man selbst die zunehmende Verarmung vieler Dortmunder schönreden. Es gibt hier einen höheren Anteil von Hartz-IV-Beziehern, von armen Kindern und von Kleinstrentnern an der Gesamtbevölkerung als in praktisch allen übrigen deutschen Großstädten.

Außerdem ignoriert man, dass mittlerweile die ganze Region abgehängt und das Ruhrgebiet längst zum Armenhaus der Republik geworden ist. Eine der scheinbar positiven Folgen davon sind viel niedrigere Mieten als in München. Es gibt keinen Grund für Kommunalpolitiker, Ratsmitglieder oder Bürgermeister, die Probleme ihrer Stadt zu verharmlosen. Wenn sie das tun, bleibt die erwünschte Unterstützung von Land und Bund nämlich aus.

Armut hat verschiedene Gesichter. Ist das Gesicht heute ein anderes als vor 50 Jahren? Hungern muss niemand mehr, es scheint, als würden Arme eher zu dick werden. Und noch ein Eindruck: Je größer die Armut, desto größer der Flachbildfernseher.

Butterwegge: Abgesehen davon, dass immer mehr Kinder hungrig in die Kita oder die Schule kommen und an den Lebensmitteltafeln großes Gedränge herrscht, trifft das Vorurteil über die Armen mit Flachmann und Flachbildschirm nicht auf sämtliche Betroffene zu.Außerdem muss man sich fragen, was arme Menschen kompensieren, wenn sie viel Geld in Unterhaltungselektronik stecken. Sie sparen an der Nahrung und kaufen lieber teure Prestigeobjekte, um damit sich und anderen demonstrieren zu können, dass sie auch "dazugehören". Das tun sie, um in einer Gesellschaft, in der sie stark benachteiligt sind, nicht sozial abgehängt zu werden.

Durch Konsumgüter, die sie sich eigentlich nicht leisten können?

Butterwegge: Ja, in einer so reichen Gesellschaft wie der unsrigen versuchen die Betroffenen zu vertuschen, dass sie arm sind. Das gilt vor allem für Kinder und Jugendliche, die dem Konsumdruck seitens der Werbeindustrie und ihrer Umgebung unterliegen. Armut in einem reichen Land kann viel erniedrigender, demütigender und demoralisierender als in einem armen Land sein. Wenn man dies berücksichtigt, verliert das Ressentiment, den Armen gehe es hier gut und die Hartz-IV-Bezieher klagten auf hohem Niveau, an Überzeugungskraft.

Und ein erhöhter Alkohol- und Drogenkonsum ist nur ein Vorurteil?

Butterwegge: Damit verhält es sich ähnlich. Ich rauche schon lange nicht mehr und trinke höchstens mal ein, zwei Gläser Wein. Warum sollte ich denn auch nach Drogen oder anderen Mitteln der Ablenkung greifen und meine Gesundheit ruinieren? Schließlich bin ich nicht arbeits- und perspektivlos, sondern ein Universitätsprofessor, der im eigenen Reihenhaus wohnt und keine finanziellen Probleme hat. Wäre ich arm, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch rauchen, mich auf diese oder andere Weise betäuben, meine kleine Tochter stundenlang vor den Fernseher setzen und dem Kind vielleicht nicht regelmäßig die Zähne putzen, weil ich ganz andere Sorgen hätte.
Ich habe Verständnis dafür, dass sich Arme oft anders verhalten als Reiche und mehr Dinge im Leben "falsch" machen. Armut wirkt stigmatisierend und ist ein Ausweis des persönlichen Scheiterns, also der scheinbare Beweis, dass man in unserer Hochleistungsgesellschaft versagt hat.

Einerseits gibt es hier eine dramatische Armutsquote, andererseits ziehen Armutsflüchtlinge in die Stadt, Stand Februar 2014 waren über 5100 Rumänen und Bulgaren hier gemeldet. Zieht Armut weitere Armut an?

Butterwegge: Anziehend wirkt nicht die Armut, sondern der Umstand, dass Familienmitglieder, Freunde oder Landsleute schon dort sind. Dass man bei uns so gern über "Armutszuwanderer" schimpft, spricht für Sozialneid nach unten. Man sollte jedoch weniger die Probleme sehen, welche Migranten machen, als jene Probleme, die sie haben. Damit meine ich primär die Ausbeutung durch Hungerlöhne und den Mietwucher. Dortmund hat ein Problem, das aber nicht aus der lokalen Froschperspektive betrachtet werden darf.
2013 sind unter dem Strich 75 000 Bulgaren und Rumänen nach Deutschland gekommen, bei über 80 Millionen Einwohnern insgesamt sind das nur wenige Personen. Von einer Ausplünderung deutscher Sozialkassen kann man nicht sprechen, wenn gerade mal zehn Prozent davon Hartz IV erhalten, in den meisten Fällen als sogenannte Aufstocker, also wegen zu niedriger Löhne.

Wenn Sie der Mehrheit der Menschen in der Nordstadt etwas von qualifizierten Zuwanderern erzählen, lachen die Sie im besten Falle aus.

Butterwegge: Das mag sein, weil sie nicht wissen, dass die Zuwanderung nach Deutschland keineswegs nur von Armut geprägt ist. Die meisten Bulgaren und Rumänen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, viele davon hoch qualifiziert.

In der Nordstadt?

Butterwegge: Dass es dort nicht so ist und Fachärzte, die in Bulgarien und Rumänien fehlen, meistens woanders praktizieren, liegt daran, dass es solche Zuwanderer eher ins Rhein-Main-Gebiet oder nach München zieht. Im nationalstaatlichen Rahmen gibt es mithin weniger soziale Probleme als in Dortmund oder Duisburg.

Die hiesige Politik kritisiert seit vielen Jahren die mangelnde Unterstützung von Bund und Land.Völlig zurecht. Wenn eine Kommune besonders stark betroffen ist, muss sie von den ihr übergeordneten staatlichen Ebenen unterstützt werden. Ich sehe diese Problematik bei der Großen Koalition allerdings nicht in guten Händen.

Was läuft falsch?

Butterwegge: Man nimmt die Armut so wenig zur Kenntnis wie den Reichtum, schon gar nicht bekämpft man sie energisch. Letzterer findet sich im Koalitionsvertrag nur zweimal, und zwar als "Ideenreichtum" und als "Naturreichtum". Das Wort "Armut" kommt zehnmal vor, viermal allein im Hinblick auf die "Dritte Welt". Altersarmut soll "verhindert" werden.Dies bedeutet im Klartext, dass es sie noch gar nicht gibt. Es heißt denn auch, die sozialen Sicherungssysteme schützten die Menschen vor Armut. Schließlich wird "Bildungsarmut" genannt. Außerdem kommt Armut dreimal in Kombination mit Zuwanderung vor. Armutsmigration soll unterbunden werden.
Ich denke, bei den Regierungsparteien gibt es wenig Sensibilität für das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, die soziale Spaltung.