Dorsten / Keswick.. Für Briten ist der Lake District die romantische Dichter-Landschaft schlechthin. Doch Kerstin McNichol, die gebürtige Dorstenerin, hat ins englische Idyll einen ganz anderen Roman mitgebracht: den Thriller ihres Lebens.

David, ihr Ehemann aus Yorkshire, versprach Kerstin McNichol „Schottland für Arme“, als das Paar mit den kleinen Söhnen William und Stuart endlich seinem Heimweh folgte. Deutsche kennen den Lake District kaum; für Briten ist der Nationalpark die literarisch-poetische Landschaft schlechthin, besungen von ihren Dichtern der Romantik.

Auch die gebürtige Dorstenerin Kerstin McNichol war sofort gepackt vom neuen Zuhause am Fuß des 931 Meter hohen Skiddaw. „Hier ziehe ich nie wieder weg.“ Das Schreiben aber entdeckte die 41-Jährige nicht erst an Englands romantischer Straße – und ihre Texte sind auch keine zarten Blumengedichte.

Für Kerstin Kistowski, so ihr Mädchenname, war das Schreiben eine Befreiung nach einer Beziehung, die sie fast umgebracht hätte. „Ein Großteil des Romans spielt in Dorsten“, sagt sie – seit 1997 glücklich verheiratet – am Telefon in Keswick. Ein „Roman“ ist der Text aber eigentlich nicht, den sie schon vor 16 Jahren zu Papier brachte und „Die Ewigkeit dauert ein Jahr“ nannte.

Die Dorstenerin hatte nach ihrer Ausbildung zur Fotografin gerade das Abitur an der Kollegschule nachgeholt, als sie sich heftig verliebte. Ihr Verlobter aus Malaysia war ein „Psychopath“, erzählt Kerstin McNichol. Während einer schrecklichen Szene hatte er sie bereits mit dem Gürtel bewusstlos gewürgt, als ihre damals 80-jährige Großmutter sie rettete. Die alte Frau schlug verzweifelt mit ihrem Stock auf den Täter ein.

Schockierend klingt auch, was die 25-jährige Kerstin Kistowski bei der Polizei erlebte: Statt Hilfe zu finden, habe sie sich als Opfer „runterhandeln lassen auf gefährliche Körperverletzung“. Nächtelang lebte sie bei ihrer Oma in Angst. Der Schock kehrte sechs Jahre später zurück, als sie längst im Muna-Soldaten David McNichol ihren – wie sie sagt – „wahren Seelenpartner“ kennen gelernt hatte.

Kerstin McNichol wurde zur Zeugin im Mordprozess um den Tod der vietnamesischen Ehefrau ihres früheren Verlobten. Zehn Jahre habe sie „in Angst gelebt wie ein Hase“. Den „Roman“, der keiner ist, schrieb sie „als Selbst-Therapie“, denn professionelle Hilfe hatte der traumatisierten Zeugin niemand angeboten.

Sie hatte den Text auf eigene Kosten lektorieren lassen, aber für „Die Ewigkeit dauert kein Jahr“ dennoch keinen Verlag gefunden. Der Devise „Sex sells“ wollte sie für ihren Tatsachen-Roman nicht nachgeben. Doch um nicht nur für die Schublade zu schreiben, erzählt sie, „habe ich unter Pseudonym vier erotische Romane veröffentlicht“.

Und das von der Gattin eines Lehrers im Bilderbuch-Städtchen Keswick. David McNichol nämlich ist heute „Reservist“. Seine Frau meint’s aber nicht militärisch: Er ist vielmehr fest angestellter Vertretungslehrer an einer Oberschule mit 1200 Jugendlichen.

So weit in ihrer Schullaufbahn sind die beiden McNichol-Söhne, der siebenjährige William und der fünfjährige Stuart, noch nicht. Ihre Mama arbeitet halbtags in Keswick für eine „Personal Development“-Firma – und sie schreibt heute ganz andere Bücher.

Schließlich ist Kerstin McNichol ein sehr humorvoll erzählender Mensch – das merkt man schon am Telefon. Ihr Jugendbuch „Seelenspringer“ erzählt von den Abenteuern einer 14-Jährigen mit der ersten Liebe. „Außerdem hat die Geschichte einen übersinnlichen Twist.“

Schließlich stammt ihr Mann aus Whitby in North Yorkshire, einem Schauplatz von Bram Stokers „Dracula“ – und damit einem Szene-Treffpunkt für düster-romantische „Goths“. Für Recherche-Hilfe dankt die Autorin aber ausdrücklich: Wolfgang Gorniak.

Sie selbst war zwar nie Schülerin des Petrinums – „aber ich habe doch keine Ahnung, wie’s heute in einer deutschen Schule aussieht“. Der Gymnasiums-Chef also füllte für die Dorstenerin in Keswick – „England liegt mir, die Sprache ist mir so zugeflogen“ – ausführlich alle Wissenslücken zum Schulalltag heute.

Dabei verlässt die 15-jährige Heldin in dem noch nicht veröffentlichten Jugendroman „Nur fürs Wochenende“ schon bald die Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Ausgerechnet mit der jungen Verlobten ihres geschiedenen Vaters landet das Mädchen: im Dorsten des Jahres 1899. Kerstin McNichol hat den Text für einen Wettbewerb angemeldet und deshalb noch nicht via Kindle veröffentlicht. Aber sie kann einen schon jetzt neugierig machen: „Die beiden denken: Wir sind schlauer als die Kleinstädter 1899.“ Aber so ganz reicht das „historische Halbwissen“ dann doch nicht.

So ein Plot könnte sogar britische Leser faszinieren. Man müsste ihnen nur erklären, was Dorsten ist.