Essen. . Schwangere sollten komplett auf Alkohol verzichten. Sie setzen die Gesundheit ihres Babys aufs Spiel. Jedes Jahr kommen Tausende Kinder mit Fehlbildungen oder Verhaltensauffälligkeiten auf die Welt. Alkoholkonsum in der Schwangerschaft gilt als häufigste Ursache für nicht genetisch bedingte kindliche Fehlbildungen. Diese Erkrankungen gelten als nicht heilbar.

Mit vier steht Julia auf der Entwicklungsstufe eines zweijährigen Kindes. Sie kann nur Zwei-Wort-Sätze sprechen. Mit 16 folgt sie ihren Impulsen. Probleme, sich an Regeln zu halten, hatte sie schon immer. Jetzt bricht sie aus der Pflegefamilie aus, gerät in den Dunstkreis von Kleinkriminellen. Sie lässt sich kritiklos mit Männern ein, raucht, trinkt, macht gedankenverloren alles mit. Mit 30 wird Julia zum dritten Mal verurteilt, jedes Mal für eine Straftat nach dem gleichen Schema. Sie wird von ihren Trieben geleitet, nicht vom Verstand.

Schicksale wie das von Julia gibt es Tausende in Deutschland. Hervorgerufen durch einen fatalen Fehler: Ihre Mütter haben während der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Unter den Folgen des Alkoholkonsums leiden die Kinder ein Leben lang. Körperliche Fehlbildungen oder Verhaltensauffälligkeiten wie bei Julia können auftreten, im schlimmsten Fall auch beides. Wie gefährlich sind der Sekt für die gute Stimmung oder das Glas Rotwein zum Runterkommen in der Schwangerschaft also?

Aktuelle Erkenntnisse

Dr. Antje Erencin bekommt Tag für Tag vor Augen geführt, welche Folgen Alkohol in der Schwangerschaft für das Ungeborene haben kann. Die Kinderärztin hat sich im Sozialpädiatrischen Zentrum des Essener Elisabeth-Krankenhauses der Contilia-Gruppe auf solche Fälle spezialisiert – als eine von wenigen Experten deutschlandweit.

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„Jahrelang ist gesagt worden, dass ab und zu ein Glas Alkohol nicht schadet. Heute weiß man, dass es keine sichere Dosis gibt und Schwangere deshalb am besten keinen einzigen Tropfen trinken“, sagt sie. Wir sprechen hier über ein Zellgift, das problemlos über den Mutterleib zum Kind abgegeben wird und dort schädigend auf die Zellen und damit auf die Entwicklung des Ungeborenen einwirkt. Die Leber ist jetzt noch unreif, sie kann den Alkohol noch nicht abbauen. Dies geht nur über die mütterliche Leber, was somit länger dauert als bei der Mutter selbst. Antje Erencin formuliert es plakativ: „Das Kind ist länger betrunken als die Mutter.“

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft gilt als häufigste Ursache für nicht genetisch bedingte kindliche Fehlbildungen. In den ersten Schwangerschaftstagen ist allerdings noch keine Panik nötig. „Hier verfährt die Natur meist nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip“, so die Ärztin. Nur eine gesunde Eizelle nistet sich ein, eine geschädigte eher nicht. Wer also etwas getrunken hat, als er noch nichts von seiner Schwangerschaft wusste, muss sich weniger Sorgen machen.

Die Krankheit

Nach Expertenschätzungen trinken jedes Jahr rund 3000 bis 4000 schwangere Frauen in Deutschland so viel, dass ihr Kind mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) geboren wird, das heißt: Dass es durch den Alkoholkonsum der Mutter körperlich oder geistig geschädigt ist. „Etwa acht von 1000 Neugeborenen leiden unter dem Vollbild der Erkrankung. Dieses heißt Fetales Alkoholsyndrom, kurz FAS. Hier sind die Symptome besonders stark ausgeprägt“, sagt die Essener Kinderärztin. Statistiken zufolge trinken 14 Prozent aller Schwangeren zumindest gelegentlich Alkohol – und setzen damit die Gesundheit ihres Babys aufs Spiel.

Die Diagnose

Äußerliche Auffälligkeiten beim Kind wie ein kleiner Kopf, eine verkürzte Lidspalte, eine schmale Oberlippe und eine unterentwickelte Rinne zwischen Nase und Oberlippe sind leichter einzuordnen als geistige und seelische Störungen. Hier ähneln die Symptome häufig denen von Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS.

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„Die Diagnostik gleicht einem Puzzle“, sagt die Frau, die sich genau darauf spezialisiert hat. Mit Tests werden neben den körperlichen Umständen auch die Intelligenz, das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit des Kindes gemessen und das Verhalten beobachtet. Ein guter Zeitpunkt für eine Diagnose sei das Grundschulalter, so Erencin. Die Ärztin arbeitet eng mit den Jugendämtern zusammen, die leibliche Mutter lernt sie nur selten persönlich kennen. Oft handelt es sich bei den Betroffenen um Pflege- oder Adoptivkinder.

Die Therapie

Das Krankheits-Vollbild FAS und auch die abgeschwächte Form FASD gelten als nicht heilbar. „Aber es kann einiges getan werden, um das Leben der Kinder zu verbessern“, sagt die Ärztin. Sobald die Spezialisten eine Diagnose gestellt haben, kann die Behandlung beginnen. In Frage kommen: Krankengymnastik, Ergo-, Musik- und Sprachtherapie oder eine Frühförderung.

Auch Medikamente können helfen. „Man muss diese Kinder manchmal wie einen behinderten Menschen behandeln“, so Antje Erencin, die eines betont: „Das Umfeld ist ganz besonders wichtig. Diese Kinder benötigen viel Struktur. Wir brauchen Familien mit Marathonqualitäten.“ Die Belastungen für die (Pflege-) Familien seien enorm. Oft machten sich die Angehörigen Vorwürfe, „weil sie denken, dass ihre Erziehung versagt hat, doch das stimmt nicht. Verhaltensauffälligkeiten bei FASD sind keine Folge von Erziehungsfehlern“.