Rostock. Erschöpft, ausgebrannt, lustlos - ganz klar, das muss Burn-Out sein! Doch der Chef der Rostocker Uniklinik für Psychotherapeutische Medizin, Wolfgang Schneider, sagt: In Deutschland besteht eine wachsende Neigung bei Ärzten und Patienten, psychische Erkrankungen zu sehen, wo eigentlich keine sind.
Mit großer Skepsis beobachtet der Rostocker Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Wolfgang Schneider, die seit den 1990er Jahren stetig steigenden Zahlen von Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen. "Es gibt eine große Bereitschaft von Menschen, sich als psychisch belastet anzusehen und sich deswegen krankschreiben zu lassen", sagte Schneider jetzt in einem Interview. Sie folgen dem medialen Hype um das Burn-Out-Syndrom.
"Die Schwelle, ab wann Symptome als Ausdruck einer psychischen Erkrankung bezeichnet werden, sinkt. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung wird zu schnell und zu häufig gestellt." Schneider ist Direktor der Rostocker Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin.
Es werden zu viele Alltags-Erscheinungen pathologisiert
Dabei zeigen nach Angaben Schneiders genaue Analysen, dass die Zahl Frauen und Männer, die innerhalb eines Jahres an einer "etablierten" psychischen Erkrankung leiden, seit 20 bis 30 Jahren stabil ist. Es würden also soziale Probleme in medizinische umgewandelt. Der Einzelne glaube, nicht er selbst sei schuld an seinen Problemen, sondern die überfordernde Arbeitswelt oder zu hohes berufliches Engagement. "Dieses Phänomen ist auch bei den Renten zu beobachten", sagte Schneider. So liege der Anteil von Frühberentungen wegen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen bei 40 Prozent.
Es gebe viele Klagen, dass die Gesellschaft zu komplex geworden sei und alles mache krank. "Aber ein gewisses Maß an Müdigkeit, Erschöpfung, Demotivation oder Schlafstörungen bei beruflichen oder privaten Problemen gehört zum Normalbereich des menschlichen Erlebens - Schwarzmalen hat auch Negativeffekte", betonte Schneider. "Es ist nicht ratsam, alles zu pathologisieren." Seine Erfahrung sei, wer erst eine Diagnose hat und Medikamente bekommt, dessen Probleme werden erst richtig angeschoben.
Immer neue Diagnosen, immer mehr Medikamente
Daran trage die Ärzteschaft auch eine Mitschuld, in deren Systematik immer neue Diagnosen aufgenommen werden. "Wir schaffen neue Krankheiten", sagte Schneider. Niedergeschlagenheit und Ängste gelten als "weichere Diagnosen", die in der Arbeitswelt einen großen Raum einnehmen.
Verschärft werde das Problem durch die zu geringe Anzahl an Psychotherapeuten. Es gebe einen Engpass bei Psychotherapien, sagte Schneider. So werde oft zum Rezeptblock gegriffen und Psychopharmaka verschrieben. Erschwerend sei, dass die Pharmaindustrie das diagnostische System beeinflusse. Deshalb erhielten viele Patienten eher Psychopharmaka als eine Psychotherapie. So seien allein zwischen 2000 und 2010 die Verschreibungen von Antidepressiva um 130 Prozent bei Frauen und etwa 80 Prozent bei Männern gestiegen. (dpa)