London . Im Kampf gegen psychische Störungen setzen Regierungen weltweit auf einen Durchbruch in der Hirnforschung. Milliardenbeträge werden eingesetzt, um Störungen wie Alzheimer und Demenz besser zu verstehen und effektiver behandeln zu können. Von einem Erfolg würde auch die Pharmaindustrie profitieren.
Regierungen beiderseits des Atlantiks wetten mit Milliardenbeträgen auf einen Durchbruch in der Hirnforschung. Sie erhoffen sich dabei eine Revolution im Kampf gegen psychische Störungen wie Alzheimer, Demenz, Depressionen und Schizophrenie, die in den alternden Industriegesellschaften rasant zunehmen.
Bahnbrechende Forschungserfolge könnten Millionen von Betroffenen helfen und der Pharmaindustrie Milliarden in die Kassen spülen. Doch was machen die Firmen? Die meisten Giganten der Branche wenden sich ausgerechnet jetzt frustriert von dem Feld ab. Die Risiken sind ihnen zu hoch, die Aussicht auf Gewinne zu unsicher und in zu weiter Ferne.
Aufbruchstimmung wie zu Zeiten des Humangenomprojektes
US-Präsident Barack Obama stellte erst in der vergangenen Woche das "BRAIN"-Projekt zur genauen Kartierung des menschlichen Gehirns vor. Die EU hatte schon im Januar eine vergleichbare Forschungsinitiative vorgestellt: Beim "Human Brain Project" sollen Supercomputer das Denkorgan imitieren. Beide Initiativen wecken Erinnerungen an das gigantische Humangenomprojekt zur Entschlüsselung der menschlichen DNA in den 90er Jahren - in mancher Hinsicht sind sie sogar noch ehrgeiziger, da sie keinen klar definierten Endpunkt haben.
Sowohl Obama als auch die EU betonten die enorme wirtschaftliche Bedeutung ihrer Vorhaben. Die EU sprach von einem "risikoreichen Projekt, das langfristig einen großen Ertrag verspricht". Bis psychisch Kranke davon profitieren, dürften tatsächlich viele Jahre vergehen - wenn nicht sogar Jahrzehnte. Genau hier liegt das Problem für die relativ kurzfristig orientierte Pharmaindustrie.
Die goldenen Zeiten von Prozac & Co sind vorbei
Die Branche kann bereits auf eine lange Boomphase hochprofitabler psychiatrischer Arzneien zurückblicken - das Anti-Depressivum Prozac kam vor etwa 25 Jahren auf den Markt. Weltweit dürfte der Umsatz von Antidepressiva Branchenexperten zufolge jedoch bis 2018 auf gut fünf Milliarden Dollar fallen - nach 15 Milliarden zum Höhepunkt 2003. Bei antipsychotischen Medikamenten dürfte sich der Umsatz von 21 Milliarden Dollar 2011 bis dahin mehr als halbieren. Die vergangenen Jahre haben gleichzeitig gezeigt, dass neue Medikamente auf diesem Gebiet sehr schwer zu finden sind - selbst Verbesserungen bekannter Präparate haben sich als extrem schwierig erwiesen.
Selbst viele Wissenschaftler sind skeptisch, ob und wann sich die Initiativen in der Medizin auszahlen. "Das BRAIN-Projekt wird zweifelsohne die Neurowissenschaften voranbringen - ob dabei aber viel für die Patienten herausspringt, ist eine völlig andere Frage", erklärt etwa Neurobiologie-Professor Stephen Rose von der University of London.
Mehr Fortschritte für die Computerforschung
Das EU-Projekt werde womöglich sogar der Computerforschung mehr Fortschritte ermöglichen als der Hirnforschung. Industrievertreter sehen es ähnlich. "Ich bin fest davon überzeugt, dass die Projekte echte Durchbrüche ermöglichen werden - ich weiß nur nicht, wann", erklärt etwa Moncef Slaoui, der die Forschung bei GlaxoSmithKline verantwortet.
Der größte britische Pharmakonzern gehört zu den Firmen, die zuletzt ihre Forschung in zahlreichen Feldern der Neurowissenschaften eingedampft haben. Auch Merck, Novartis und AstraZeneca haben hier Einschnitte vorgenommen. Nur wenige schwimmen gegen den Strom - Eli Lilly und Johnson & Johnson haben noch immer große Forschungsprojekte, während Roche zuletzt sogar das Budget für Hirnforschung aufgestockt hat.
Forschungserfolge könnten Big Pharma zurücklocken
Neue Medikamente zur Behandlung von psychischen Störungen sind für die Industrie eine notorisch schwere Aufgabe. Frühe Tierversuche sind meist von begrenztem Nutzen, weil Mäuse den Wissenschaftlern wenig über ihre Gefühle verraten. Bei Studien mit menschlichen Teilnehmern entfalten Placebos wie Zuckerwürfel oftmals eine enorm hohe Wirkung - deshalb ist der Effekt neuer Präparate besonders schwer nachzuweisen.
Besonders strenge Vorgaben der Zulassungsbehörden stellen ein weiteres Hindernis dar. Die Erfolgsquote für diese Medikamente in der letzten klinischen Phase liegt lediglich bei 50 Prozent, während es bei anderen Krankheitsfeldern 50 bis 80 Prozent sind.
Feld bereits deutlich ausgedünnt
Der Rückzug vieler Konzerne hat das Feld bereits deutlich ausgedünnt. Dies könnte für die Verbliebenen von enormem Vorteil sein, sollten sich irgendwann Erfolge einstellen. Es ist jedoch angesichts des neuen staatlichen Engagements fraglich, wie lange die großen Konzerne auf dem Gebiet außen vor bleiben können.
Anders Gersel Pedersen, der bei dem dänischen Neurowissenschafts-Spezialisten Lundbeck für die Forschung zuständig ist, resümiert es folgendermaßen: "Die großen Gehirn-Initiativen in den USA und Europa sind zwar langfristig angelegt. Ich wäre aber nicht überrascht, wenn dabei positive Entwicklungen zustande kommen, die Big Pharma wieder zurück ins Feld locken." (Reuters)