Essen. . Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat sich im Kampf gegen den drohenden Pflegenotstand strikt gegen Pläne der EU ausgesprochen, für die Pflegeausbildung Abitur vorauszusetzen. Das sei ein “Irrweg für Deutschland“.

Deutschland steuert auf einen Pflegenotstand zu. Laut Bertelsmann-Studie bräuchten wir bis 2030 eine halbe Million mehr Pflegekräfte, obwohl es schon heute zu wenige gibt. Wie das trotz mäßiger Bezahlung und vieler Missstände gelingen soll, sagt Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) im Gespräch mit Stefan Schulte.

Herr Minister, wie bewerten Sie die Lebensqualität von Altenheim-Bewohnern auf einer Skala von eins bis zehn?

Bahr: Das hängt auch vom Pflegeheim ab. Mein Großvater hatte eine sehr hohe Lebensqualität: im Schnitt denke ich, liegt sie bei sechs, was vor allem an hervorragenden Pflegekräften liegt.

Eine sehr optimistische Schätzung, bedenkt man die Negativ-Meldungen, wie aktuell die Misshandlung einer dementen Frau in Bremen.

Bahr: Fälle wie in Bremen sind vollkommen inakzeptabel, müssen aufgedeckt, von den zuständigen Stellen verfolgt und konsequent geahndet werden. Das ist in Bremen auch geschehen. Alle in der Gesellschaft sind aufgefordert zu verhindern, dass es zu Gewalt gegen Menschen kommt. Zumal es hier um Menschen geht, die sich oft nicht wehren können. Es gibt in der Tat Unterschiede in der Qualität der Häuser, vieles hängt daran, wie gut sie von der Heimleitung geführt werden. Ihre Bewertung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) funktioniert nicht optimal, was zum Teil auch an den Kriterien liegt. Hier ist die Selbstverwaltung aufgefordert, schnellstmöglich zu Verbesserungen zu kommen.

Ist das nicht per se ein Interessenkonflikt, wenn ein Dienst der Krankenkassen über die Qualität, aber auch die Pflegestufen der Bewohner entscheidet - also über die eigenen Ausgaben?

Bahr: Es muss einen Ausgleich der Interessen von Patient und Beitragszahler geben, es geht schließlich um Gelder aus einem Solidarsystem. Sie müssen sich auf notwendige Leistungen beschränken, gleichzeitig aber dem Anspruch, den der Leistungsempfänger hat gerecht werden.

Aber unabhängig würden Sie den MDK auch nicht nennen?

Bahr: Wir brauchen Alternativen zum MDK, sonst wird er für seine Monopolstellung immer in der Kritik stehen. Wir haben dafür gesorgt, dass sich der MDK jetzt auf Servicegrundsätze verpflichten muss. Es ist gut, dass die Privaten Krankenversicherer ein eigenes Gutachtersystem aufgebaut haben. Das neue Pflegegesetz regelt, dass auch gesetzlich Versicherte diese anderen Gutachter unter bestimmten Bedingungen nutzen können. Der Wettbewerb wird helfen.

Warum steht die Pflege trotz vieler Missstände viel seltener im Fokus als etwa das Renten- und das Gesundheitssystem?

Bahr: Das ärgert mich auch. Viele Menschen verdrängen dieses Thema, weil es im Zweifel unangenehm ist und sie hoffen, nicht so bald davon betroffen zu sein.

Hinzu kommt Scham. Die Bewohner schämen sich, im Heim leben zu müssen, und ihre Angehörigen, dass sie ihre Eltern nicht selbst pflegen. Vielleicht scheuen sie deshalb die Öffentlichkeit.

Bahr: Ja, aber diese Scham müssen wir den Menschen nehmen. Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er es nicht schafft, seine Angehörigen zu Hause zu pflegen. Viele tun das und es ist meist für alle auch eine gute Lösung. Aber das geht nicht immer, und dann fällt es schwer sich einzugestehen, dass man jemandem, den man liebt, nicht mehr zu Hause behalten kann, weil die Belastung zu hoch wird. Dann muss es darum gehen, ein gutes Heim zu finden.

Die Alterung unserer Gesellschaft beginnt gerade erst. Aber wir haben jetzt schon zu wenige Pflegekräfte. Wie kommen wir aus der Demografiefalle heraus?

Bahr: Wir wollen den Pflegeberuf aufwerten, vor allem die Ausbildung neu gestalten und Alten-, Kranken- sowie Kinderkrankenpflege zu einem Berufsbild zusammenführen. Darüber verhandeln wir derzeit mit den Ländern. Auch sollten Pflegekräfte Aufgaben übernehmen dürfen, die Ärzte an sie delegieren. Das dritte Umschulungsjahr muss wieder bezahlt werden, denn sonst entscheiden sich die Umschüler gegen den Pflegeberuf. Wir wollen aber mehr Menschen für die Arbeit in der Pflege gewinnen. Ich lehne den Vorschlag der EU-Kommission ab, quasi das Abitur zur Vorraussetzung für eine Pflegeausbildung zu machen. Ein Irrweg für Deutsachland, der die Situation nur weiter verschärfen würde. Unsere Qualität der Pflegeausbildung braucht keinen Vergleich zu scheuen.

Viele hatten gehofft, dass nach Öffnung der Grenzen 2011 osteuropäische Pflegekräfte zu uns strömen. Wo sind sie geblieben?

Bahr: Briten, Skandinavier und die Schweiz haben längst Pflegekräfte angeworben, die so sprichwörtlich an uns vorbeigezogen sind. Das ist die Folge der jahrelangen deutschen Überheblichkeit zu glauben, wir bräuchten keine Zuwanderer.

Attraktiver würde der Pflegeberuf auch durch eine bessere Bezahlung. Müssten dafür die Beiträge steigen?

Bahr: Nicht unbedingt. Wir haben durchgesetzt, dass ab 2013 Heime nicht mehr benachteiligt werden dürfen, die nach Tarif bezahlen. Manche Kassen haben das solchen Heimen tatsächlich als Nachteil ausgelegt. Natürlich ist die Pflege kein Beruf, von dem man reich wird. Aber er muss angemessen entlohnt werden.

Dennoch konkurriert die Pflege mit gut zahlenden Branchen um immer weniger junge Leute. Woher nehmen Sie den Optimismus, künftig genug Nachwuchs für die Pflege zu finden?

Bahr: Weil es ein sehr attraktiver Beruf ist, in dem man etwas ganz konkret Gutes erreichen kann. Und gerade in strukturschwachen Regionen bietet die Pflege künftig ein hohes Maß an Arbeitsplatzsicherheit. Allerdings müssen sich auch Arbeitgeber Gedanken machen, etwa wie junge Frauen den Pflegeberuf besser mit der Familie vereinbaren können. Auch große Arbeitgeber wie Caritas und Diakonie stehen unter Druck und haben längst angefangen, über Verbesserungen nicht nur nachzudenken.

Weshalb auch kirchliche und karitative Träger längst zu Leiharbeitern greifen, um die Lücken zu füllen - sowohl in Heimen als auch in der ambulanten Pflege.

Bahr: Ich bin nicht grundsätzlich gegen Zeitarbeit in der Pflege, aber es darf hier kein Ausnutzen geben. Dafür ist das persönliche Vertrauensverhältnis zu den Pflegebedürftigen viel zu wichtig.

Die Arbeitsagenturen schulen viele Menschen zu Altenpflegern um, sagen aber selbst, das reiche nicht aus. In NRW dauert es derzeit 115 Tage, bis eine freie Stelle besetzt werden kann.

Bahr: Es gibt Regionen mit großem Bedarf, anderswo läuft es deutlich besser. Ich finde die Programme der Arbeitsagenturen gut, aber nicht jeder ist geeignet für diesen Beruf. Man muss diese Arbeit machen wollen und können. Deshalb ärgert es mich jedes Mal, wenn Politiker Massenumschulungen von Arbeitslosen fordern. Solche simplen Forderungen helfen niemanden, schaden oft sogar dem Image des Pflegeberufs. Wir wollen das Ansehen der Pflege jetzt verbessern. Und es gibt durchaus Fortschritte. Im letzten Ausbildungsjahr befanden sich knapp 52.000 Menschen in der Ausbildung zum Altenpfleger, im aktuellen sind es 56.000. Erste Erfolge unserer Qualifizierungsoffensive in der Altenpflege sind erkennbar.

NRW hat im Sommer eine Ausbildungsumlage eingeführt. Die Ausbildungszahlen steigen, die Preise gerade von ambulanten Diensten aber auch. Ist das der richtige Weg?

Bahr: Wir diskutieren mit den Ländern gerade eine neue Finanzierung der Pflegeausbildung. Dabei spielen viele Ansätze, auch die Umlage, eine Rolle. Die Diskussion ist aber noch nicht abgeschlossen.