London. Trotz harter, körperlicher Arbeit, Parasiten und vielen Krankheitserregern. Die Männer des Regenwald-Stammes Tsimane in Bolivien haben einen niedrigeren Testosterongehalt als Männer in den Industrieländern. Doch der geringe Anteil des männlichen Sexualhormons ist für die Tsimanen ein Vorteil.
Männer mit viel Testosteron sind weniger hart als sie glauben: Denn im echten Überlebenskampf bringt ihnen das Männlichkeitshormon keine Vorteile. Dann gilt eher: Weniger ist mehr. Das zeigt eine Studie US-amerikanischer Forscher am Volk der Tsimane in Bolivien.
Die Männer dieses Regenwald-Stammes von Jägern und Sammlern sind alles andere als Weichlinge: Geplagt von Parasiten und Krankheiten müssen sie hart körperlich arbeiten, um genügend Nahrung zu finden und ihre Familien zu ernähren. Doch statt wie erwartet viel Testosteron, haben sie nur ein Drittel so viel im Blut wie Männer in den Industrieländern. Das berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin "Proceedings of the Royal Society B".
Gute medizinische Versorgung
Auf den ersten Blick scheint der niedrigere Testosterongehalt ein Nachteil für die Tsimane-Männer zu sein, verleiht ihnen dies doch weniger Muskelmasse und damit Stärke. Doch genau das Umgekehrte ist der Fall: "Mehr Muskelmasse zu produzieren, kostet Energie - und hohe Testosteronwerte verringern zudem die Leistung des Immunsystems", schreiben Benjamin Trumble von der University of Washington in Seattle und seine Kollegen.
Wenn man in einer Umwelt mit vielen Parasiten und Krankheiten lebe, sei es biologisch sinnvoller, den Testosteronwert niedrig zu halten. Die hohen Testosteronwerte der Männer in den Industrieländern seien evolutionär gesehen eine neue Erfindung, meinen die Forscher. Möglich wurden sie erst durch den Nahrungsüberfluss und die gute medizinische Versorgung.
Jäger und Sammler
Parasiten und Krankheiten seien in unserer Gesellschaft eher die Ausnahme. "Unser Lebensstil ist eine Anomalie, eine Abweichung von der Jahrtausende alten Lebensweise unserer Art als Jäger und Sammler", sagt Michael Gurven, einer der Leiter der Studie von der University of California in Santa Barbara.
Das Streben nach möglichst hohen Testosteronwerten, beispielsweise durch Hormonpflaster oder sonstige Präparate, hat demnach mit ursprünglicher Männlichkeit oder gar altem Jägererbe wenig zu tun.
Niedriger aber stabilerer Testosteronwert
Und noch einen Unterschied stellten die Forscher bei den Tsimane fest: Ihr Testosteronspiegel bleibt das ganze Leben hindurch gleich hoch. Bei Männern in den Industrieländern nimmt der Gehalt des Hormons mit dem Alter allmählich ab. "Diese für uns typische Kurve entspricht nicht dem ursprünglichen Verlauf in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften", konstatieren die Forscher.
Bei den Tsimane gebe es mit dem insgesamt niedrigeren, aber dafür stabileren Testosteronwert wenig Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder andere Alterskrankheiten.
Mehr Testosteron in Wettkämpfen
Eine Gemeinsamkeit mit Männern in den Industrieländern haben die Tsimane allerdings: Wenn ein Wettkampf ansteht, steigt auch bei ihnen der Testosteronspiegel deutlich an. Das zeigte sich, als die Forscher ein Fußballturnier im Regenwald veranstalteten und dabei die Hormonspiegel der Spieler maßen. Unmittelbar nach dem Spiel stiegen die Testosteronwerte der Männer um 30 Prozent an.
"Trotz ihrer krankmachenden Umgebung ist es auch für die Tsimane wichtig, Testosteron für kurzzeitige Wettkämpfe und große Kraftanstrengungen freizusetzen", sagt Gurven. Ähnliche Hormonspitzen gebe es auch bei Männern in den Industrieländern in Wettbewerbssituationen. Das zeige, dass diese Hormonspitzen ein fundamentaler Aspekt der menschlichen Biologie seien. Sie blieben selbst dann erhalten, wenn dies bedeute, kurzzeitig das Immunsystem zu schwächen und eine Infektion zu riskieren. (dapd)