Hagen. Im Sommer 2005 lässt sich DerWesten-Redakteurin Sina Heilmann bei einem Kurztripp in Dresden für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) typisieren. Jetzt kehrte sie dorthin zurück, um für eine Patientin Stammzellen zu spenden und damit ihr Leben zu retten.

Das Schild stand in der Dresdener Altstadt. Der Junge war blond, vielleicht sieben Jahre alt. Er lächelt mich vom Foto aus an und sieht aus wie ein ganz normaler Junge. Doch das ist er nicht: Er hat Leukämie und braucht dringend einen Stammzellspender. Deswegen gibt es an diesem Tag einen Aufruf der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS), bei dem sich Passanten zwischen Stadtbummel und Sightseeing „mal eben“ typisieren lassen können.

Seitdem bin ich in der der DKMS registriert und bekomme regelmäßig Werbung, Infos, Berichte über Erfolge und vieles mehr. Das Meiste landet schnell und ohne Umwege im Altpapier. Das wäre auch fast mit dem Umschlag passiert, der vor ein paar Wochen erst im Briefkasten und dann achtlos und ungeöffnet auf der Rückbank des Autos liegt.

Bis da ein paar Tage später noch diese E-Mail im Postfach auftaucht mit dem Betreff: Erinnerung zur Bestätigungstypisierung. Erinnerung? Bestätigung? Typisierung? Der Brief! Er liegt zum Glück noch auf der Rückbank und enthält die dringende Bitte, schnell die DKMS anzurufen. Ich komme als potenzieller Spender für einen Patienten in Frage.

Gewebe könnte passen

Noch am selben Abend telefoniere ich mit der Zentrale der Spenderdatei in Tübingen und erfahre, dass es da einen Menschen auf dieser Welt gibt, der dringend eine Spende braucht, um weiterleben zu können. Meine kleine Blutprobe, die ich vor sechs Jahren in Dresden abgegeben habe, zeigt: Mein Gewebe könnte passen.

Eine weitere Blutuntersuchung ist nötig, denn aus Kostengründen wird bei der Aufnahme eines Spenders in die Datei keine komplette Analyse des Blutes durchgeführt. Ich lasse mir beim Hausarzt Blut abnehmen und richte mich aufs Warten ein. Es könne bis zu zwölf Wochen dauern, bis ich wieder etwas höre, sagt man mir. Gut, ich habe gerade eh anderes im Kopf: Das Jahresende rück näher, Weihnachten steht vor der Tür, viele Dinge wollen erledigt werden. Außerdem plane ich ein Marathontraining, das im Januar beginnt, und der Urlaub für März ist schon gebucht.

Und überhaupt: Im Bekanntenkreis gab es schon viele, die als potenzielle Spender in Frage kamen. Gepasst hat es dann schlussendlich (leider) nie. Im Nachhinein weiß ich: Ich bin mir zu diesem Zeitpunkt gar nicht richtig bewusst, was da gerade passiert und was es bedeutet.

DerWesten-Redakteurin Sina Heilmann spendete Stammzellen. Damit soll das Leben eines 14-jährigen Mädchens aus Israel gerettet werden. Foto: Gerd Lorenzen
DerWesten-Redakteurin Sina Heilmann spendete Stammzellen. Damit soll das Leben eines 14-jährigen Mädchens aus Israel gerettet werden. Foto: Gerd Lorenzen

Von wegen zwölf Wochen. Zehn Tage nach der Blutabnahme durch den Hausarzt ist das Untersuchungsergebnis da. Mein Gewebe passt. Die entscheidenden Merkmale stimmen mit denen des Patienten überein. Ich bin der geeignete … ich lese den Satz gar nicht zu Ende. Ich weiß, was dort steht. Mein Herz hört kurz auf zu schlagen, bevor es im doppelten Tempo in der Brust hämmert.

Ich denke kurz an den geplanten Marathon, an den Urlaub – und fühle mich sofort schlecht. Wie kann ich über so etwas nachdenken, wenn es um das Leben eines Menschen geht? Ich? Ein Leben retten? Einfach so? Und dann noch direkt vor Weihnachten? Das klingt schon beinahe zu kitschig.

Herausgefilterte Stammzellen können 72 Stunden überleben

Da in der Umgebung so kurzfristig keine Plätze frei sind, muss die Stammzellapherese in Dresden stattfinden. Diese ambulante Methode der Stammzellentnahme wird mittlerweile der stationären Knochenmarkpunktion bevorzugt, weil sie weniger in den Körper des Spenders eingreift. Bei der Apherese, umgangssprachlich Blutwäsche genannt, läuft das Blut aus dem einen Arm hinaus und durch eine Maschine.

Dort werden die Stammzellen herausgefiltert und das Blut wird über den anderen Arm wieder in den Körper gepumpt. Die herausgefilterten Stammzellen können 72 Stunden überleben.

In dieser Zeit müssen sie dem Patienten transplantiert werden. In einem zweiten Beutel kommt etwas Blutplasma mit auf die Reise. „Falls die Stammzellen unruhig werden oder Hunger bekommen, bekommen sie ein wenig davon“, erklärt mir die Krankenschwester. Haben die Zellen ihr Ziel erreicht, heißt es abwarten. Im besten Fall richten sie sich beim Patienten häuslich ein und vermehren sich. Im schlimmsten Fall werden sie abgestoßen.

Hormone fördern das Wachstum

Nach einer letzten Voruntersuchung beginnt fünf Tage vor dem Spendetermin der unangenehme Teil für mich: Ich muss morgens und abends Hormone spritzen, die das Wachstum der Stammzellen fördern und die zu viel produzierten Stammzellen ins Blut spülen. „Bei vielen sind die Nebenwirkungen nicht so schlimm und wenn, dann treten sie meist auch erst am zweiten Tag auf“, klärt die Ärztin mich im Vorfeld auf. Zwei Stunden nach der ersten Spritze weiß ich: Ich gehöre zu denjenigen, bei denen die Schmerzen sofort losgehen.

Vor allem im Becken, Rücken und im Kopf scheine ich die Produktion jeder einzelnen, kleinen Zelle zu spüren. Ja, ich jammere und fühle mich elendig und wünsche mir, dass es schnell vorbei ist. Und gleichzeitig weiß ich, dass dies nichts ist im Vergleich zu dem, was eine bestimmte Person irgendwo in einem Krankenhaus gerade durchmacht.

Und ich weiß, dass diese unbekannte Person ihre letzte Hoffnung in mich gesteckt hat. Also hoffe ich auch, dass ich ihr Gutes tun kann und dass die kleinen, lebenswichtigen Zellen in mir zu Höchstform auflaufen. Und das tun sie: In 147 Minuten kann die Maschine bei der Spende die nötigen 186 Milliliter Stammzellen abzapfen. „Ein toller Schnitt für eine Frau“, höre ich. Viele müssen vier Stunden und länger und manchmal sogar ein zweites Mal angeschlossen werden.

Am Morgen nach der Spende rufe ich bei der DKMS an und erfahre von einem Mädchen. Sie ist 14 Jahre alt und an akuter lymphatischer Leukämie erkrankt. Bis gestern standen ihre Überlebenschancen gleich null. Jetzt, nachdem sie meine Stammzellen bekommen hat, haben sich ihre Chancen auf 80 Prozent erhöht. Das Mädchen lebt in Israel. Sie ist jetzt mein genetischer Zwilling. Hoffentlich viele Jahrzehnte lang.