Berlin. Psychische Erkrankungen sind bei Migranten weiter verbreitet als bei Einheimischen. Auch ein höheres Selbstmordrisiko lässt sich belegen. Doch das deutsche Gesundheitssystem ist für die Anforderungen nur unzureichend gerüstet.
Migranten leiden häufiger an psychischen Erkrankungen als Einheimische. Gerüstet ist das deutsche Gesundheitssystem dafür unzureichend. Die Versorgung ist defizitär, es mangelt an muttersprachlicher Psychotherapie und kultureller Kompetenz, wie Experten kritisieren. Fehldiagnosen und falsche Behandlungen sind oft die Folge.
"In meinem Kopf sitzt ein Mann, der lacht mich immer furchtbar aus für meine Gedanken", sagte die über 60-jährige Frau in gebrochenem Deutsch zu ihrem Arzt. Er diagnostiziert eine schizophrene Wahnvorstellung. Als die Patientin an die Münchner Psychologin und gebürtige Griechin Maria Gavranidou gerät, die sich mit ihr in der Muttersprache unterhält, fällt die Diagnose ganz anders aus: Der lachende Mann im Kopf sei nur eine wortwörtlich genommene Redewendung. Die Frau leide an einer Depression. Das ist kein Einzelfall für in Deutschland lebende Migranten "Migranten sind ja nicht anders krank als Deutsche. Aber sie bekommen in bestimmten Bereichen nicht die angemessene Behandlung", sagt Gavranidou, die im Referat für Gesundheit und Umwelt der Stadt München arbeitet.
Interkulturalität spielt kaum eine Rolle
"Unserem Gesundheitssystem fehlen kultursensible und der Diversität der Patienten angemessene Versorgungsangebote, Interkulturalität spielt kaum eine Rolle und es gibt wenig Muttersprachler oder Dolmetscher in den Kliniken." Die Missverständnisse beginnen oft bereits mit der Diagnose. Schizophrenie wird etwa bei Einwanderern weitaus häufiger festgestellt als bei Einheimischen, wie Meryam Schouler-Ocak, Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik Charité Berlin, in einer bundesweiten Befragung psychiatrischer Einrichtungen ermittelt hat. Einerseits liegt das an den Fehldiagnosen: Halluzination, Geisterglaube und Wahn werden schnell als typisch für Schizophrenie angesehen.
Andererseits sind Migranten ungleich stärker gefährdet, an Schizophrenie zu erkranken. Wissenschaftler des Karolinska-Institut in Stockholm wiesen etwa ein um rund 50 Prozent erhöhtes Risiko nach. Migranten der zweiten Generation sind sogar noch stärker gefährdet als ihre Elterngeneration, so eine internationale Studie der niederländischen Psychiater Elizabeth Cantor-Graae und Jean-Paul Selten. Nicht nur für Schizophrenie, auch für andere psychische Krankheiten sind Einwanderer anfälliger. Laut Bundespsychotherapeutenkammer leiden sie doppelt so häufig wie gebürtige Deutsche an körperlichen Beschwerden, für die es keine organischen Ursachen gibt. Und fast 60 Prozent häufiger erkranken Einwanderer an Depression.
Auch nachfolgende Generationen betroffen
Auch ein höheres Selbstmordrisiko lässt sich belegen: Bei den jungen Türkinnen ist die Rate doppelt so hoch wie bei jungen deutschen Frauen, das fand die Medizinerin Schouler-Ocac in einer Studie der Charité heraus. Fehlende Muttersprachler oder unzureichende Sprachkenntnisse der Migranten sind nicht das alleinige Problem. "Wir haben etliche Patienten, die bei einheimischen Kollegen waren und meinen, dass sie von diesen nicht verstanden wurden, obwohl sie gut deutsch sprechen", sagt Schouler-Ocak.
Oft wird in der herkömmlichen Therapie nicht unterschieden, ob die Beschwerden auf die Schicht, partnerschaftliche Probleme des Patienten, den unterschiedlichen kulturellen Hintergrund oder die Migrationsgeschichte zurückzuführen sind. Verschleppte Sorgen und Traumata wie zerrissener Familien können auch durchaus noch die nachgeborenen Generationen belasten.
Krankenkassen wollen Situation verbessern
So wie bei einer 55-jährigen Türkin aus Berlin, Tochter einer der ersten Gastarbeiterinnen. Sie war fünf Jahre alt, als sich ihre Mutter auf die Anwerbung einlässt, die Koffer packt, nach Deutschland zieht. Für die nächsten Jahre ist sie verschwunden. Als die Tochter in die Pubertät kommt, holt die Mutter sie nach Deutschland - das Verhältnis zwischen den beiden ist angeknackst. Jahre später mit dem Tod der Mutter holt die Patientin das Trauma und die konfliktbeladene Beziehung ein. Zwölf Monate lang, gelähmt von einer Depression, kann sie nicht arbeiten. Im Oktober vergangenen Jahres veranstaltete die Bundespsychotherapeutenkammer ein Symposium zur psychologischen Versorgung von Migranten und schickte einen Appell an die Krankenkassen. Seit diesem Jahr, so meldet der Verband der privaten Krankenversicherung (PKV), will man hier mehr tun. Um die medizinische Versorgung von Migranten zu verbessern, werden seit Jahresbeginn 364.000 Euro in die unabhängige Patientenberatung in der jeweiligen Muttersprache investiert. (dapd)