Berlin. .

Demenzkranken werden zu viele Beruhigungsmittel verschrieben, Alkoholikern wird Schlafmittel mit Suchtpotenzial verordnet, Hunderttausende Patienten schlucken nach Darstellung von Experten Arznei, die ihnen mehr schadet als nützt.

Hunderttausende Patienten in Deutschland schlucken nach Darstellung von Experten Medikamente, die ihnen mehr schaden als nützen. So würden Demenzkranke zu häufig mit Pillen ruhig gestellt, sagte der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske am Mittwoch in Berlin. Zudem würden Alkoholikern wider alle Regeln ärztlicher Kunst Schlafmittel mit Suchtpotenzial verordnet. Bei der Antibabypille würden neue Präparate verschrieben, obwohl ältere geringere Risiken mit sich brächten.

„Wir sind bestürzt“, sagte Glaeske zu seinem neuen Arzneimittelreport für die Krankenkasse Barmer GEK. Der Bremer Sozialwissenschaftler hatte die Patientendaten der rund neun Millionen Versicherten der Kasse und deren Arzneimittelausgaben von rund vier Milliarden Euro ausgewertet. Die Fehlversorgung mit Arzneimitteln sei „nicht nur eine Verschwendung von Geld, es ist leider auch eine Belastung für Patientinnen und Patienten“, sagte Glaeske.

Bei den von Millionen Frauen eingenommenen Antibabypillen bringen nach seiner Darstellung neue Präparate deutlich höhere Risiken als ältere Mittel: Bei den älteren Präparaten der zweiten Generation komme es - berechnet auf 100.000 Frauen und die Einnahme über ein Jahr - zu 15 bis 20 Fällen gefährlicher Thrombosen, sagte Glaeske. Bei vielen neueren Präparaten seien es dagegen 30 bis 40 Fälle solcher Gefäßverschlüsse, weil die Zusammensetzung der Hormone verändert wurde.

Dass trotzdem die neuen Mittel „Topseller“ sind, erklärt sich laut Glaeske mit gezieltem Marketing. Für Pillen der zweiten Generation seien die Patente abgelaufen. Die noch patentgeschützten und deshalb für die Pharmaindustrie lukrativeren Verhütungspillen der dritten und vierten Generation würden dagegen gezielt beworben. „Tatsache ist, dass dieser Markt nicht zugunsten der Frauen ausfällt.“

Er riet allen Frauen, mit ihren Ärzten über ihr Pillenpräparat zu sprechen und sich über die Risiken oder einen möglichen Umstieg beraten zu lassen. Keinesfalls sollten die Frauen aber plötzlich mit der Einnahme des Verhütungsmittels aufhören, riet der Wissenschaftler.

Beruhigungspillen für Demenzkranke

Scharfe kritisierte der Arzneimittelexperte die zu häufige Verordnung sogenannter Neuroleptika zur Ruhigstellung altersverwirrter Menschen in Pflegeheimen. Diese Mittel, die eigentlich der Behandlung von Psychosen dienen, würden „mehr und mehr in Bereichen eingesetzt, wo sie nicht indiziert sind“, sagte Glaeske. Etwa jeder dritte Demenzkranke bekomme Neuroleptika, obwohl damit das Risiko eines vorzeitigen Todes steige.

Als Hintergrund vermutet er Personalmangel. Gäbe es eine bessere Pflege, könnte die Medikamentengabe um 20 bis 30 Prozent verringert werden. Es handele sich um eine „Entwicklung, die mit einer Menschenwürde und einer vernünftigen Patientenversorgung nicht in Verbindung zu bringen ist“, sagte der Fachmann.

Für einen „Kunstfehler“ hält er es zudem, dass gut 13 Prozent der Alkoholkranken sogenannte Benzodiazepine bekommen, obwohl diese Schlafmittel Suchtpotenzial haben und somit suchtanfälligen Patienten nicht gegeben werden dürften. Hochgerechnet auf etwa 1,6 Millionen Alkoholkranke wären dies mehr als 200.000 Patienten. Die negativen Folgen seien „bekannt, aber dennoch wird es gemacht“, kritisierte Glaeske.

Kosten gedämpft

Alle Krankenkassen zusammen gaben nach eigenen Angaben 2010 rund 29 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Das vergangenes Jahr verabschiedete Arzneimittelsparpaket hat den Kostenanstieg gedämpft, wie Barmer-GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker sagte. Gleichwohl sieht seine Kasse immer noch ein Einsparpotenzial von sieben bis acht Prozent der Ausgaben. Auf nur knapp ein Prozent der Versicherten entfallen rund 30 Prozent der Ausgaben für Medikamente. (dapd)