Marsberg. . Quälereien unter Jugendlichen im Internet, das „Cyber-Mobbing“ greift in NRW immer weiter um sich. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) spricht von einer „völlig neuen Dimension“. „ Von 1000 jungen Patienten, die jedes Jahr in den vier Jugendpsychiatrischen Kliniken des LWL behandelt werden, haben 250 Mobbing-Erfahrungen gemacht“, erklärt LWL-Sprecher Karl G. Donath

„Station 21 B II“ ist kein schöner Name. Technisch, kalt, systematisch. Ein Ort zum Gesundwerden müsste anders heißen, und darum hat 21 B II noch einen zweiten Namen: „Station Neue Wege“. Wer hier ankommt, sucht Auswege: aus Angst, aus Traurigkeit oder aus dem Wunsch, nicht mehr da zu sein. 90 junge Gäste hat 21 B II übers Jahr. Manche sind schon volljährig, andere gerade 13. Jeder Dritte von ihnen wurde regelrecht krankenhausreif gemobbt. Wie Sarah (15).

Sarah heiß eigentlich anders, und in welcher Stadt die Sauerländerin wohnt, soll auch nicht öffentlich werden. Dafür erzählt Sarah uns ihre Mobbing-Geschichte. Die beginnt im Sommer 2010. Damals läuft es nicht rund in Sarahs Familie. Das Mädchen kommt mit dieser Situation nicht klar, sie braucht psychologische Hilfe. Als sie nach einer Behandlung in ihre Klasse zurückkommt, beginnt eine lange Leidenszeit.

„Erst waren es nur Blicke“, erzählt Sarah. „Dann wurde getuschelt, und dann ging das mit den Sprüchen los.“ Vier Mädchen aus ihrer neunten Realschulklasse haben sie auf dem Kieker. Sie nennen sie „Klapsenkind“, sie spotten: „Du bist zu dumm, dich umzubringen“. Sarah glaubt, das geht vorbei. Aber das geht nicht vorbei. Das geht immer weiter. Monatelang.

„Mobber sind meist nicht die besten und nicht die schlechtesten Schüler in einer Klasse“, sagt Psychotherapeut Stefan Harnisch von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Marsberg. „Und gemobbt werden oft die, die nicht so belastbar sind, die keine Unterstützung durch andere haben.“


Der Lehrer merkt nichts

Sarah kann es nicht glauben: Der Lehrer hat sie mitten zwischen die vier Mädchen gesetzt, die sie quälen. „Er fand, ich könnte da der ruhende Pol sein“. Der Pädagoge ist Ende 50, also kein Anfänger. Aber er kriegt nichts mit. Er erkennt nicht, dass Sarah von Feinden umzingelt ist. Und die 15-Jährige sagt nichts. Sie vertraut sich nicht gern Erwachsenen an. Inzwischen kursieren Zeichnungen und Briefe über Sarah. „Schweinchen-Babe“ wird sie darin genannt und „Fette Fliege“. Sarah hat Angst. Morgens denkt sie: „Ich will diesen Tag überleben.“ Sie leidet stumm. Aber es gärt in ihr.

„Eine Auseinandersetzung im Internet ist kein normaler Streit. Der Weg vom Gedanken zum Tippen ist kurz“, sagt der Therapeut. „Es ist ja viel leichter, etwas in vermeintlicher Anonymität zu schreiben, als es jemandem direkt zu sagen. Im Internet gibt es Mobbing-Täter und -Opfer, und oft sind die Opfer gleichzeitig Täter.“


Sarah holt zum Gegenschlag aus. „Ihr macht mich nicht fertig“, denkt sie. Sie streitet nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern macht das Internet zur privaten Angriffs-Plattform, genauer: das Chat-Programm ICQ. Sarahs Wut, Sarahs Frust verwandeln sich in Sätze. „Keine Angst. Jeder bekommt, was er verdient. Der Tag wird kommen, meine Lieben“, schreibt sie. Und; „ich schlage euch kaputt.“

„Sie hat keine Namen genannt. Sie hat in diesen Zeilen auch nicht wirklich eine Gewalttat ankündigen wollen“, urteilt ihr Therapeut. „Das Mädchen hat sich einfach Textbausteine aus Google zusammengesucht.“

Doch Sarahs Cyber-Attacke trifft hart. Viel härter, als gedacht. Eine der vier Mitschülerinnen, die Sarah quälen, liest diese Botschaft. Sie sagt es ihrer Mutter, die meldet es der Schule, der Schulleiter ruft die Polizei. Gegen Mitternacht stehen Polizisten vor der Tür. Sie fürchten: Sarah plant einen Amoklauf. Sarahs Mutter ist nicht daheim, sie arbeitet in dieser Nacht. Die Jugendliche wähnt sich in einem Albtraum.

Jungs seltener betroffen

Um drei Uhr morgens wird sie in der Jugendpsychiatrie in Marsberg „abgegeben“. Ihre Mobbing-Geschichte endet auf Station 21 B II.

Sarah ist eine von vielen, die in Marsberg solche Geschichten erzählen. „Mädchen sind eher von Cyber-Mobbing betroffen als Jungs“, sagt der Therapeut. Jungs hätten eine andere „Streitkultur“, Mädchen streuten eher Gerüchte, Lästereien, böse Sprüche ins Netz. Stefan Harnisch: „Es fehlt Cyber-Mobbern der Glaube, dass das, was sie schreiben, praktisch unauslöschbar ist. Sie wissen auch nicht, dass man ihnen über die Provider auf die Schliche kommen kann. Eltern und Lehrer haben keine Ahnung von alldem.“ Noch etwas beobachten die Experten: „Im Internet gehen viele bis zum Letzten, und das heißt: Aufforderung zum Selbstmord.“

Der Pädagoge Gregor Wittmann von der LWL-Klinik in Marsberg berichtet von „hemmungslosen Beleidigungen, obszönen Botschaften und Aufforderungen zum Selbstmord“, die immer häufiger im Netz kursierten. Nicht nur auf den in letzter Zeit bekannt gewordenen „Pöbel-Plattformen, sondern auch in den normalen sozialen Netzwerken wie Facebook und schülerVZ. „Praktisch jeder Jugendliche, der von uns behandelt wird, hat Kontakte zu diesen Netzwerken oder besonderen Chaträumen. Außerdem gibt es inzwischen zu jedem psychischen Störungsbild eigene Foren im Netz, in denen Magersüchtige, Depressive oder Suizidgefährdete ihre Erfahrungen und Tipps austauschen“, berichtet Jugend-Psychotherapeut Stefan Harnisch.