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5653 anerkannte Behandlungsfehler, 55 davon mit tödlichem Ausgang: Das ist die Bilanz der Bundesärztekammer für 2009. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit schätzt sogar, dass 0,1 Prozent aller im Krankenhaus behandelten Patienten an Nebenwirkungen sterben – 17 000 Menschen jährlich allein in Deutschland. Offensichtlich krankt das System, das uns gesund machen soll, und die Symptome sind so vielfältig wie die Ursachen.
Schon vor zehn Jahren sorgte eine Studie mit dem Titel „Irren ist menschlich” weltweit für Aufsehen. Darin schätzten Forscher für die USA eine jährliche Zahl von bis zu 98 000 Todesfällen durch Behandlungsfehler. Einer Eurobarometer-Umfrage zufolge war in Deutschland jeder Achte selbst oder innerhalb der Familie von ärztlichem Versagen betroffen. Die Universität Maastricht ermittelte in einer Studie mit 400 Patienten, dass sich jeder Vierte ein Jahr nach der Operation schlechter fühlte als davor.
Weit oben auf der Beschwerdeliste rangieren fehlerhafte Brustkrebsdiagnosen. Doch mangelhafte Fachkompetenz verursacht nur einen Teil der Probleme. Weit häufiger tragen Patientenverwechslungen und falsch verabreichte Medikamente die Schuld. Eine Studie der Europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin hatte vor zwei Jahren Krankenhäuser aufgerufen, medizinische Fehler anonym zu dokumentieren. Dabei kam heraus, dass 441 von 1300 untersuchten Patienten innerhalb der 24-stündigen Beobachtungszeit falsche oder falsch dosierte Medikamente gespritzt wurden. „Jeder dritte Fehler geschah aufgrund von Arbeitsüberlastung, Stress und Übermüdung”, berichtet Studienleiter Andreas Valentin. Weitere Gründe seien wechselnde Namen von Medikamenten, schlechte Kommunikation zwischen dem medizinischen Personal sowie Abweichungen von den Protokollen.
Der Chirurg Bertil Bouillon lehrt an der Universität Witten/Herdecke. Aus seiner Erfahrung als junger Assistenzarzt schildert er einen Fall, in dem er eine junge Weitspringerin am falschen Knie operiert hat: Auf der Operationseinwilligung war versehentlich die falsche Seite vermerkt worden. Weder der Patientin noch dem medizinischen Personal fiel die Verwechslung auf. „Seitdem markiere ich am Morgen der Operation beim wachen Patienten die zu operierende Extremität mit einem nicht abwischbaren Stift”, erklärt Bouillon. Gäbe es eine offene Gesprächskultur bei Behandlungsfehlern, ließen sich viele Probleme vermeiden, glaubt das Aktionsbündnis Patientensicherheit.
Viele Behandlungen sind unnötig oder nutzlos
Doppelt tragisch sind Fehler bei medizinisch unsinnigen Behandlungen. Jährlich wird 250 000 Patienten mit verschlissenem Kniegelenk Knorpel abgeschabt. Erwiesenermaßen wäre Krankengymnastik genauso effektiv. Bei Krampfadern die Venen zu veröden hilft nicht – Kompressionsstrümpfe hingegen erfüllen den Zweck. Neurodermitis bei Kleinkindern heilt in vier von fünf Fällen von ganz allein. „Im stationären Bereich bestehen durch die eingeführten Fallpauschalen fatale finanzielle Anreize zur unsachgemäßen Leistungsausweitung, da jetzt eine möglichst hohe Zahl von Operationen das große Geld bringt”, kritisiert Christian Zimmermann, Präsident des Allgemeinen Patienten-Verbands.
Überflüssig sind auch viele Medikamente. Fünf Tage im Jahr schluckt der durchschnittliche Deutsche Antibiotika. So mancher Hausarzt verschreibt sie pauschal bei Infekten – dabei gehen die Beschwerden oft auf Viren zurück, gegen die Antibiotika absolut wirkungslos sind. Fast 300 Tonnen Tabletten kommen dabei im Jahr zusammen. Und das, wo Deutschland die höchsten Arzneimittelpreise in Europa hat, weil nirgendwo sonst die Hersteller die Preise beliebig festsetzen dürfen. Die Deutschen geben mehr Geld für Medikamente aus als für alle Arztpraxen des Landes zusammen.
Auch in eben diesen Praxen liegt manches im Argen. Die Wochenarbeitszeit deutscher Ärzte sank einer Statistik der Bundesärztekammer zufolge zwischen 1991 und 2007 von 38,1 auf 33,2 Stunden. „Sieben Minuten hat der ambulante Arzt durchschnittlich Zeit für den Patienten”, so Zimmermann. 35 Euro erhält der Arzt je Patient und Quartal. Den Einsatz von Geräten kann er teuer in Rechnung stellen. „Ein hohes Honorar wird nicht selten durch hohe Patientenzahlen und eine unsachgemäße Leistungsausweitung erzielt, die dann die Ressourcen verbraucht, die für sinnvolle Maßnahmen zur Verfügung stehen sollten”, sagt Zimmermann.
In echte Prävention wird zu wenig investiert
Eine Teilschuld an der Überlastung der Ärzte tragen die Patienten allerdings selbst: Der Deutsche geht 18-mal im Jahr zum Arzt, der Norweger nur dreimal. Unwahrscheinlich, dass die Skandinavier so viel gesünder sein sollen. Obendrein dienen bei uns nur drei Prozent aller Arztbesuche der Vorsorge. Faktisch handelt es sich selbst dabei meist um Früherkennungen, ob von Darm-, Brust- oder Hautkrebs. Ein Viertel aller Erkrankungen ließe sich Schätzungen zufolge durch den richtigen Lebensstil vermeiden, bei Herzerkrankungen sollen es vier von fünf Fällen sein. Doch den meisten Menschen fällt bereits die regelmäßige Zahnpflege schwer. In echte Prävention investiert unser Gesundheitssystem – und wir selbst – zu wenig. Dabei ist das zur Zeit der beste Weg, möglichen Behandlungsfehlern aus dem Weg zu gehen.