Leinfelden.
Meine Medizin, deine Medizin: Maßgeschneiderte Therapien sind auf dem Vormarsch und bieten bessere Heilungschancen bei weniger Nebenwirkungen. Noch gibt es jedoch Probleme mit der Finanzierung.
Alle Menschen sind gleich? Mitnichten: Je weiter Genforschung, Molekularbiologie und molekulare Medizin fortschreiten, desto klarer wird, wie unterschiedlich die Menschen tatsächlich sind. Die genetische Hardware ebenso wie die persönlichen Erfahrungen und Lebensbedingungen machen nicht nur die Persönlichkeit jedes Menschen einzigartig, sondern auch seinen Körper, seinen Stoffwechsel, sein Immunsystem - und seine Krankheiten. Ist es da überhaupt sinnvoll, dass jeder Mensch die gleiche Behandlung bekommt?
Neue Technologie für personalisierte Medizin
Immer mehr Ärzte und Wissenschaftler beantworten diese Frage mit „Nein“. Der Trend geht klar zur personalisierten Medizin. Darunter verstehen Mediziner Therapien, die für eine kleine Gruppe von Menschen mit gemeinsamen Merkmalen maßgeschneidert sind. Allerdings war es lange ein Problem, diese Merkmale oder auch Biomarker zu identifizieren. Abhilfe schaffen nun jedoch neue Technologien und natürlich die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2003. Mitte dieses Jahres war denn auch allein in Deutschland bereits für 14 Wirkstoffe ein Gentest vor dem Einsatz empfohlen oder sogar vorgeschrieben.
Der Grund dafür: Bereits kleinste genetische Abweichungen können völlig verändern, wie ein Wirkstoff durch den Körper reist, ob er an seine Zielstrukturen andocken kann oder wie schnell er wieder ausgeschieden wird. Berücksichtigt man solche Besonderheiten nicht, kann es sein, dass eine Therapie nicht anschlägt oder dass sie extreme Nebenwirkungen verursacht.
Das zeigt auch das Beispiel des 2009 zugelassenen Wirkstoffs Gefitinib, der gegen Lungenkrebs eingesetzt wird.
Während der Prüfungsphase hatte sich das Medikament nur bei 9 Prozent aller Testpersonen bewährt - und war damit nicht besser als ein Scheinmedikament. Das Problem: Der Wirkstoff blockiert einen Empfänger für einen Wachstumsbotenstoff auf der Oberfläche der entarteten Zellen und stoppt dadurch das Signal „Teilen!“, das dieser Empfänger ins Zellinnere vermittelt. Das funktioniert allerdings nur dann effektiv, wenn das Gen für diesen Empfänger eine bestimmte Veränderung aufweist. Folglich steigt die Erfolgsrate der Behandlung von 9 auf immerhin 42 Prozent, wenn lediglich Patienten mit einer Mutation im Empfänger-Gen berücksichtigt werden.
Ähnliche Ansätze bei Darmkrebs und Leukämie
„Wir führen mittlerweile die Mutations-Analytik bei Lungenkrebs standardmäßig durch. Abhängig davon geben wir dem Patienten dieses Medikament oder nicht“, erläutert der Onkologe Jochen Greiner vom Tumorzentrum in Ulm. Ähnliche personalisierte Ansätze gibt es auch bei Brustkrebs, bei Leukämie und bei Darmkrebs. Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen sind zumindest die Grundlagen ebenfalls gut erforscht.
Besondere Herausforderung: Behandlungen des Gehirns
Schwieriger ist es dagegen bei Erkrankungen des Gehirns, denn dieses Organ ist sehr schwer zugänglich - sowohl für die Diagnostik als auch für Medikamente, denn es wird durch die sogenannte Blut-Hirn-Schranke geschützt. Das ist beispielsweise bei Depressionen problematisch: „Wenn wir ein Medikament haben, das in der Dosierung, die der Hersteller empfiehlt, nicht ins Gehirn eintritt, dann kann es auch nicht wirken“, erläutert Florian Holsboer, Direktor am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Er und seine Kollegen haben jedoch auch hier Hoffnung auf einen personalisierten Ansatz: Bei einigen Menschen ist eine der Pumpen, die die Blut-Hirn-Schranke so effektiv machen, aufgrund einer genetischen Veränderung defekt. Solche Patienten lassen sich dann sehr gut mit den Antidepressiva behandeln - für andere muss nach Alternativen gesucht werden.
Auch Mutationen in Leber- oder Nierengenen können wichtige Faktoren bei der Auswahl von Medikamenten sein. In den USA empfiehlt die Zulassungsbehörde FDA beispielsweise, vor dem Einsatz des Gerinnungshemmers Warfarin ein Gen für ein bestimmtes Leberenzym zu untersuchen - ist es verändert, wird der Wirkstoff nämlich sehr viel langsamer abgebaut, und es kann infolgedessen zu schweren Blutungen kommen.
Finanzierungsmöglichkeiten stellen die Weichen
Doch so vielversprechend diese Ansätze auch sind - ob sich die personalisierte Medizin tatsächlich flächendeckend durchsetzen wird, hängt vor allem davon ab, ob sie sich finanzieren lässt. Denn für die Pharmaindustrie erscheint zumindest auf den ersten Blick die Entwicklung eines Medikaments für alle attraktiver zu sein als die eines Präparates für einige wenige.
Bei näherer Betrachtung gibt es allerdings durchaus Argumente, die für die Nischenwirkstoffe sprechen. So lässt sich durch eine gezielte Personalisierung das Zulassungsverfahren beschleunigen oder effizienter machen, glaubt beispielsweise der Pharmakonzern Roche. Dadurch könnte der Hersteller länger vom Patentschutz profitieren.
Das Darmstädter Unternehmen Merck hat zudem die Erfahrung gemacht, dass die genaue Definition möglicher Nutznießer in manchen Fällen die Zielgruppe eines Medikaments erweitert - und damit dessen Umsatz erhöhen kann. Und auch auf Dauer wird sich die Personalisierung lohnen, sind sich ihre Befürworter sicher, schließlich sollten die Behandlungen deutlich effizienter werden und die Zahl der unerwünschten Nebenwirkungen abnehmen. Die Krankenkassen geben sich hingegen noch zurückhaltend: „Wir verlangen mehr Nachweise über den Nutzen für die Patienten, bevor wir uns mit der Finanzierung beschäftigen“, sagt etwa Diedrich Bühler, Referent beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen.
Was tatsächlich überwiegen wird - Kosten oder Nutzen - wird die Zukunft zeigen. Ein klares Statement dazu gibt es aber schon: Im Juni 2008 veröffentlichte das Büro für Technikfolgen-Abschätzung im Auftrag des Deutschen Bundestages den Zukunftsreport „Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem“. Darin heißt es: „Individualisierte Medizin wird in rund 20 Jahren das Gesundheitswesen prägen.“ (dapd)