Wattenscheid. .
Für ihre Umwelt war es ein Schicksalsschlag, für Annemarie Brinckmann (74) hingegen war die Geburt ihres zweiten Kindes ein Gottesgeschenk – obwohl ihr Sohn Karsten 1962 mit dem Down-Syndrom zur Welt kam. „Er hat uns sehr viel Freude bereitet und war eine große Bereicherung unseres Daseins“, sagt sie.
Dass Annemarie Brinckmann ein paar Nächte lang dicke Tränen vergossen hat, nachdem sie das Acht-Monats-Kind endlich aus der Klinik mit nach Hause nehmen durfte, lag nicht an Karstens Behinderung. „Ich habe nicht geweint, weil ich so ein Kind hatte, sondern weil man mir nichts davon gesagt hatte. Das war früher so – da haben die Ärzte das den Müttern vor lauter Scheu verschwiegen.“
Dass die gelernte Krankenschwester selbst nichts gemerkt hat, das habe wohl an den zwei dicken Glasscheiben gelegen, die in der Kinderklinik stets zwischen ihr und ihrem Frühchen waren. „Kaum mehr als drei Pfund hat Karsten bei der Geburt gewogen, und er hatte ein Loch in der Herzscheidewand“, erinnert sie sich. „Mein Mann hat damals gesagt: Der hat keine Überlebenschance. Aber Karsten war sein Leben lang ein Kämpfer – bis zuletzt.“
Karsten wurde 48 Jahre alt
Am 26. März diesen Jahres ist Karsten Brinckmann mit 48 Jahren gestorben. „Die Jahre mit ihm waren eine wunderbare Zeit, und trotz aller Kämpfe möchte ich sie nicht missen“, sagt seine Mutter. Die Kämpfe begannen früh: Kein Kindergarten, keine Schule habe das behinderte Kind haben wollen. In die damalige Sonderschule am Bußmannsweg kam Karsten schließlich. „Heute gehen Down-Syndrom-Kinder in normale Schulen – wir waren froh, dass er überhaupt zur Schule gehen konnte.“
Oft bekam Annemarie Brinckmann Dinge zu hören, die sie sprachlos machten. „Mir sagte mal eine Frau von der Frauenhilfe: Solche Kinder sind doch eine Strafe Gottes.“ Und auch für Karstens Geschwister Levecke (50) und Jan (46) war es nicht einfach. „Guck mal, da kommt euer doofer Bruder“, hieß es oft. „Aber wir haben immer alle zu ihm gestanden – die ganze Familie“, betont die Mutter.
Diavorträge hat Annemarie Brinckmann gehalten, um das Thema „Down Syndrom“ unter die Leute zu bringen, sich im Jahr 1966 gemeinsam mit anderen Eltern zur Lebenshilfe in Wattenscheid zusammen geschlossen. „Die Idee einer Wohnstätte für behinderte Kinder kam auf, als eine Frau die Frage stellte: Was wird aus den Kindern, wenn wir mal nicht mehr sind“, erinnert sie sich. „Die anderen Mütter mit Down-Syndrom-Kindern waren ja bei der Geburt viel älter als ich.“
Viele schöne Erinnerungen
Die Wohnstätte an der Sommerdellenstraße, von der Lebenshilfe initiiert, wurde 1990 auch Karstens Zuhause. „Er war ja mit den anderen zur Schule gegangen – und mir war das wichtig, dass ich ihn alleine lassen konnte“, sagt Annemarie Brinckmann.
Viele schöne Erinnerungen hat sie an die 48 Jahren mit ihrem Karsten. „Wir haben ihn ja überall mit hingenommen – auf Schiffsreisen zum Nordkap, nach England, nach Israel“, zählt sie auf. An der Klagemauer in Jerusalem, erinnert sich Annemarie Brinckmann, sei Karsten lange verschwunden, um zu beten: „Für jeden seiner Freunde und für die Familie hat er ein extra Gebet gesprochen.“
Das Beten sei dem jungen Mann, der 15 Jahre lang im Ludwig-Steil-Haus die Kollekte eingesammelt hat, sehr wichtig gewesen: „Er hat in der Synagoge genauso gebetet wie in der Moschee.“
Nein, den Satz „Sie arme Frau“, den sie oft zu hören bekommen hat, wollte Annemarie Brinckmann niemals annehmen: „Karsten hatte so ein feines Gespür für andere Menschen. Er hat zwar nie richtig sprechen gelernt, aber er hat alles verstanden. Ich bin doch reich – durch seine Liebe. Und stärker als die Trauer ist das Glück, dass wir Karsten so lange haben durften.“